„Franz Kafka war ein Höhlenmensch“: Rüdiger Safranksi über die Verrücktheiten eines Genies
Im Gespräch Hat sich Kafka wirklich einen Mauerbau im Nahen Osten gewünscht? War er ein Linker? Und worüber würde er heute schreiben – etwa über Social Media? Zum 100. Todestag hat Rüdiger Safranski dem mysteriösen Schrifsteller eine Biografie gewidmet
Ist vor 100 Jahren im Alter von 40 Jahren verstorben: der Schriftsteller Franz Kafka
Collage: der Freitag; Material: Imago, Biodiversity Heritage Library
Bei einem ist sich Rüdiger Safranski sicher: Er hat eine Interpretation über den Jahrhundertschriftsteller abgeliefert, die bisher nirgendwo zu lesen war. Sein Buch Kafka. Um sein Leben schreiben ist im Februar bei Hanser erschienen und wurde prompt ein Bestseller. Was hat er Neues über den rätselhaften Autor zu sagen?
der Freitag: Herr Safranski, warum hatte ich beim Lesen Ihres Buches andauernd das Gefühl, Franz Kafka gegen Sie verteidigen zu müssen?
Rüdiger Safranski: Das erstaunt mich. Wie kommen Sie darauf?
Sie nennen Kafka, weil er sich zum Schreiben in einen Keller zurückziehen wollte, einen „Höhlenbewohner“; Sie beschreiben ihn als weinerlich, hysterisch; auf Seite 96 dichten Sie ihm sogar eine Impotenz an.
Die dichte ich ihm nic
weil er sich zum Schreiben in einen Keller zurückziehen wollte, einen „Höhlenbewohner“; Sie beschreiben ihn als weinerlich, hysterisch; auf Seite 96 dichten Sie ihm sogar eine Impotenz an.Die dichte ich ihm nicht an, ich interpretiere einen Brief an seine zweimalige Verlobte Felice Bauer dementsprechend. Zu dem Ausdruck Höhlenbewohner: Der Kafka hatte nun mal komische Seiten! Wenn ich lese, dass er gerne in einem Verließ leben würde, stelle ich ihn mir mit Grubenlampe vor, die er am Kopf befestigt hat, damit er noch sehen kann, wenn er in seinem Berg herumsitzt und schreibt.Sie machen ihn lächerlich.Kafka war selbst ein ironischer Mensch! Er verstand sich gut darin, das Extreme ins Komische zu drehen. Er hat sich über die dramatischsten Geschichten lustig gemacht. Als er das Urteil vorlas, bekam er Lachanfälle.Aber in erster Linie war er ein einfühlsamer Mensch. Ich denke an die Geschichte, wo er im Steglitzer Park ein Mädchen traf, das seine Puppe verloren hatte und deswegen traurig war. Daraufhin hat er etliche Postkarten geschrieben, die angeblich von der Puppe kamen, und hat sie dem Mädchen überreicht. In der letzten Karte heißt es, ich habe geheiratet und bin überglücklich.Das ist schön, oder? Das passiert kurz vor seinem Lebensende. Aber die Geschichte ist auch aus einem anderen Grund interessant: Kafka schreibt hier, vielleicht zum einzigen Mal, nur um zu trösten.Wieso schrieb er denn sonst?Schreiben hatte für Kafka verschiedene Bedeutungsschichten. Zum Beispiel sagt er: Schreiben ist eine Art des Gebets. Oder er sagt: Schreiben ist ein Ansturm gegen die letzten Grenzen. Oder er sagt: Schreiben ist ein Herausspringen aus der Totschlägerreihe. Oder er sagt: Schreiben ist eine Konstruktion der Genusssucht. Oder er sagt: Schreiben ist meine Art, das Ungeheuer in meinem Kopf loszuwerden. Aber in der Sequenz mit der Puppe geht es um einen elementaren sozialen Akt, nämlich ein kleines Mädchen im Park zu trösten. Ich finde das ergreifend.Kafkas Werk ist durchzogen von einem diffusen Schuldgefühl. Gregor Samsa verkriecht sich in der „Verwandlung“ unter dem Kanapee, weil er der Familie seinen Anblick als Ungeziefer ersparen will. Josef K. wird im „Process“ angeklagt, ohne den Grund zu kennen. Wo ist die Wurzel dieses Schuldgefühls?Ich würde sagen, im Absolutismus, den er der Literatur zugeschrieben hat. Berühmt ist sein Satz: Ich habe kein Interesse an Literatur, ich bestehe aus Literatur. Das bedeutet, dass alle anderen Lebensangebote im Vergleich zum Schreiben zweitrangig sind. Das Problem: Kafka gerät dadurch in die Klemme eines doppelten Schuldgefühls: Wenn er sich verlobt oder ins Bordell geht, was er bisweilen auch tat, fühlt er sich dem Schreiben gegenüber schuldig. Aber wenn er das Schreiben in den Mittelpunkt stellt, fühlt er sich dem Leben gegenüber schuldig. Ein existenzielles Schulddrama, das Schulddrama, das auch in seinem Werk allgegenwärtig ist.Wo stand Kafka politisch? Es gibt ja diesen Satz von ihm: Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt. Da klingt er wie ein Linker. Auf der anderen Seite liest sich der erste Entwurf vom „Process“ wie beinharte antikommunistische Literatur: Da nennt er die bösen Bürokraten vom Gerichtshof „sozialistisch“.Allerdings hat Kafka, wie Sie richtig bemerken, diesen Passus wieder gestrichen. In seinen jugendlichen Jahren war er ein Linker. Er interessierte sich für den Sozialismus und den Anarchismus.... und ging dann den klassischen Weg und wurde konservativ?Nein, dafür interessierte er sich nicht genug für Politik. Wenn er beispielsweise bereit war, in den Krieg zu ziehen, dann war das so beflissen, wie sich verloben. Nein, Politik rührte ganz einfach nicht an seine heißen Zonen.Sind Sie sicher? In der Erzählung „Ein altes Blatt“ geht es um Nomaden, die in eine Stadt einfallen. Die Fremden werden da mit „krächzenden Dohlen“ verglichen. Heute würde man sagen: Kafka war ein Rassist.Törichte Menschen würden das sagen, ja. Dabei hat Kafka hier einfach eine anthropologische Wahrheit am Schlafittchen: Die Realität lässt nicht zu, dass es überhaupt keine Grenzen mehr gibt. Kafka legt die universellen Verfeindungsverhältnisse zugrunde. In dem Text geht es um eine Bedrohung von außen, vor der man sich schützen muss – zur Not mit einer Mauer. Die Notwendigkeit eines solchen Schutzes ist immer noch aktuell. Das sehen wir doch in unserer heutigen Lage jeden Tag.Träumen Sie nie von einer grenzenlosen Welt, Herr Safranski?Der Traum einer grenzenlosen Welt ist eine Wünschbarkeit. Ob er jemals Realität werden wird, das wage ich zu bezweifeln.In Ihrem Buch gibt es den spannenden Gedanken, dass sich Kafka eine Art Chinesische Mauer auf palästinensischem Boden gewünscht hat, um einen sicheren Raum für Jüdinnen und Juden zu schaffen.Na ja, ich formuliere das etwas vorsichtiger als Sie …Sie sind ja auch kein Journalist.Schon gut! (lacht) Ehrlich gesagt bin ich froh, dass Sie es überhaupt bemerkt haben. Ich halte das nämlich für eine Entdeckung von mir, diese Interpretation habe ich jedenfalls noch nirgendwo gelesen. Ich beziehe mich da auf den Text Beim Bau der Chinesischen Mauer aus dem Jahr 1917. Darin schildert Kafka, wie Gemeinschaften einen Mythos brauchen, der sie zusammenhält. Der Erzähler hat am Bau der Chinesischen Mauer teilgenommen und fragt sich im Nachhinein, was er da eigentlich gemacht hat. Ging es wirklich darum, China vor den Nordvölkern zu beschützen? Das hatte offensichtlich nicht funktioniert, weil die Mauer lückenhaft geblieben ist. Oder ging es darum, den Kaiser zufrieden zu stimmen? Am Ende kommt er zu der Erkenntnis, dass es um etwas ganz anderes ging: die Manifestation der chinesischen Gemeinschaft durch ein gemeinsames „Volkswerk“, wie Kafka es nennt: die riesengroße Mauer.Was hat diese Erzählung mit Palästina zu tun?Ich habe Kafkas Faszination für das zionistische Projekt in Beziehung zu diesem Text gesetzt. Wir wissen, dass Kafka begeistert Theodor Herzl gelesen hat und mehrfach mit dem Gedanken spielte, nach Palästina auszuwandern. Mit seiner letzten Geliebten, Dora Diamant, wollte er dort sogar ein Lokal eröffnen und kellnern. Und dann schreibt er eine Geschichte darüber, wie sinnstiftend der Bau der Chinesischen Mauer gewesen ist! Da liegt doch der Gedanke nah, dass er sich dasselbe für sein Volk, die Juden, gewünscht hat – die lebten damals in der ganzen Welt zerstreut und wurden überall verfolgt.Kafka hat seine Auswanderungspläne nie realisiert.Das stimmt. Aber er machte sich Gedanken darüber, welche Fähigkeiten er brauchen würde, sollte er dorthin ziehen. Er wollte sinnvolle Arbeit in Palästina leisten. Und ihm war schon klar, dass seine Schreibkunst dort weniger gebraucht würde. Also hat er Gartenbau gelernt.Welcher Gedanke mich immer fasziniert, wenn ich Kafka lese: Was hat ihn so verletzlich gemacht? Er hat sein Lebensgefühl ja mal mit einem Spaziergang verglichen, auf den er sich immer wieder aufs Neue vorbereiten muss. Das heißt: Er müsse sich nicht waschen und kämmen, sondern sein Kleid nähen, seine Schuhe schustern, den Hut fabrizieren, den Stock zuschneiden und so weiter. War Kafka vielleicht ein kleines bisschen autistisch? Oder woher kam diese dauerhafte Überforderung?Sie haben gerade den Ausdruck verletzlich benutzt, der passt eher. Das Gefühl der vollkommenen Schutzlosigkeit hat bestimmt auch mit seiner jüdischen Existenz zu tun. Gefährliche Ausschreitungen gegen Juden gab es ja auch in Prag.Körperlich war er nicht so schwach, wie man oft denkt.Er wog bei einer Körpergröße von 1,82 Meter gerade mal 60 Kilo …Die Spanische Grippe hat er aber überlebt.Das stimmt. Aber er war trotzdem eine Figur zum Umblasen, spindeldürr! Er hat zwar versucht, seinen Körper zu stärken, indem er jeden Morgen vor dem Fenster Kniebeugen macht. Aber er selbst hat mal gesagt, schon ein einziger Windstoß könnte ihn in den Himmel treiben. Das klingt fast religiös.Sie schreiben, Kafkas großes Thema sei die „metaphysische Obdachlosigkeit“ seiner Zeit.Für mich ist der Kafka der typische Fall für jemanden, der noch nicht religiös ausgebürgert ist und deswegen besonders stark den Phantomschmerz der abwesenden Transzendenz verspürt. In seinen Tagebüchern schreibt er, vom jüdischen Gebetsmantel habe er nur einen Zipfel erreicht; auch vom Christentum sei er nie in die Welt hineingeführt worden. Wenn er schreibt, in mir ist alles „Negative“ der Gegenwart enthalten, meint er damit die Säkularisierung und den Nihilismus seiner Zeit, die er beide kritisch sah.Heute liegt die Religion, zumindest im Westen, ziemlich am Boden. Worüber würde Kafka heute schreiben? Über Social Media?Interessanter Gedanke. Lassen Sie mich mal überlegen. Hm ... (denkt nach) Ja, vielleicht! Da fällt mir eine Szene aus dem Schloss ein. Da geht K. zum ersten Mal ans Telefon und hört ein gleichmäßiges Geräusch. Da wird ihm klar, dass es das unendliche Stimmengewirr dieser riesigen Behörde im Schloss ist, die er jetzt zusammengebündelt als einen Ton wahrnimmt. Also von diesem Phänomen des universellen Geschwätzes, das keinen Zwischenraum mehr zwischen den Menschen zulässt, die in eine bedrückende Nähe zueinander geraten sind, weil alle miteinander plappern, das wäre wohl ein Thema für Kafka gewesen.Sind Sie eigentlich religiös?Ich bin ein heimlicher Metaphysiker. Wie Kafka! Ohne die Restbestände der Metaphysik ist das Leben langweilig. Eine Welt ohne Transzendenz ist wie ein Rotwein ohne Tannine: Das lohnt sich einfach nicht. Dass Kafka das erkannt hat, dafür liebe ich ihn.Placeholder infobox-1
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