Die Richtung gab Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán spätestens am 13. Oktober vor: In einem Radiointerview erklärte er kategorisch, die globale Tragödie des Angriffs der Hamas auf Israel bedeute, dass der Frieden des Westens in Trümmern liege. Neben Beileidsbekundungen für die Opfer und klarer Fürsprache für den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, sagte Orbán: „Der zweite Gedanke ist dann immer, Gott zu danken, dass wir ein solches Problem nicht haben. Danken wir also Gott, dass wir in Frieden leben können. Und ein Politiker muss auch daran denken, dass wir in Zeiten wie diesen, in denen wir leben, den Wert des Friedens und der Stabilität erkennen, und dass es die Aufgabe unserer gewählten Führer ist, dies zu schützen. Angesichts eines solchen Terroranschlags wird noch deutlicher, dass der Frieden und die Sicherheit des ungarischen Volkes geschützt werden müssen.“
Einigkeit mit Budapests Bürgermeister Gergely Karácsony
Wie auch anderswo in Europa haben die ersten schockierenden Bilder des brutalen Massakers, das die Hamas an der Grenze zum Gazastreifen verübt hat, Ungarn schockiert. Die Vergangenheit des Landes im 20. Jahrhundert hat dieses Trauma noch verstärkt. Und obwohl die vergangenen Jahrzehnte im politischen Diskurs gekennzeichnet waren durch die Infragestellung von „Tabus“ im Sinne Rechtsradikaler, kommt der Nahostkonflikt im Jahr 2023 einem großen Wendepunkt in dieser Frage gleich: Der rechtsextreme Antisemitismus ist auf dem Rückzug. Seit dem 7. Oktober verurteilen rechte Zeitschriften, Online-Medien, Radio- und Fernsehsender in Ungarn unisono das, was sie als „Feier“ der Hamas-Morde auf den Straßen Westeuropas betrachten, während sie gleichzeitig der immer noch starken jüdischen Gemeinde Ungarns bei deren Mahnwachen Solidarität bekunden.
Budapests Bürgermeister Gergely Karácsony und Viktor Orbán – ansonsten bei so gut wie nichts einig – stehen in der gegenwärtigen Situation geschlossen hinter Israel. Nach europäischem Vorbild beleuchtete Karácsony sogar das frisch renovierte Wahrzeichen Budapests, die Kettenbrücke über die Donau, in den blau-weißen Farben der israelischen Flagge. In dem Facebook-Post, der die Aktion ankündigte, schrieb das grün-linke Stadtoberhaupt: „Budapest steht schockiert vor dem feigen und bösen Terroranschlag, der nicht einmal die Zivilbevölkerung Israels verschont. Im Namen der Einwohner der ungarischen Hauptstadt habe ich meine uneingeschränkte Solidarität mit dem israelischen Volk zum Ausdruck gebracht.“
Zsolt Bayer, ein führender Kolumnist und Experte der Orbán-Regierung, der sich sonst auf jedes Wort von Karácsony stürzt, äußerte sich nun in seinem wöchentlichen Kommentar ähnlich: „Das ist ein tierisches Massaker an der israelischen Bevölkerung (...) 40 enthauptete Babys, dazu ein philippinischer Landarbeiter, der brutal mit einer Schaufel enthauptet wurde – das ist eine Botschaft der Hamas: Nicht nur Juden, sondern auch verräterische Christen stehen auf der Speisekarte. (...) In Berlin, in London, in Paris – in Washington D.C., in New York City und in Sydney sind die Araber bereits mit palästinensischen Fahnen auf die Straße gegangen und haben diese brutale, unerklärliche Mordserie bejubelt, (...) sie haben „Tod den Juden“ gerufen – und Europa und die Vereinigten Staaten schauen entgeistert zu.“
Die Unterstützung für das Verbot pro-palästinensischer Demonstrationen fand in den meisten politischen Lagern weithin Zustimmung. Sowohl Orbán als auch Bürgermeister Karácsony unterstützten die entsprechende Entscheidung des Budapester Polizeichefs. Zu einer Solidaritätsdemonstration, die von örtlichen Palästinensern nach den israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen organisiert worden war, äußerte sich Orbán ohne Umschweife: „Lassen Sie uns das vergessen. Dies ist weder die Zeit noch der Ort dafür, wir werden keine Genehmigung dafür erteilen, und wir – die Regierung – werden von unseren gesetzlichen Rechten Gebrauch machen. Aber an vielen Orten in Westeuropa können sie pro-terroristische Demonstrationen nicht verhindern.“ In erklärendem Tonfall fügte er an: „Das ist auch für Ungarn wichtig, denn wir dürfen nicht vergessen, dass Ungarn eine der größten jüdischen Gemeinden in Europa hat. (...) Unabhängig von ihrer Religion, unabhängig von ihrer Herkunft – es darf nicht sein, dass sich ungarische Menschen, ungarische Bürger, wegen ihrer Herkunft oder ihrer Religion bedroht fühlen. Das muss verhindert werden! Dies ist ein sicheres Land.“ Budapests Bürgermeister Karácsony erklärte: „Budapest ist kein Ort für Pro-Hamas-Kundgebungen.“
Politisch Andersdenkende sind rar. Die rechtsextreme, irredentistische Jugendorganisation „Hatvannégy Vármegye Ifjúsági Mozgalom“, die die Vereinigung von 64 Gebieten und aller ethnischen Ungarn, die außerhalb Ungarns leben, und damit die Revision des Vertrags von Trianon von 1920 will, bezeichnete die Bombardierung Gazas durch Israel als „Genozid“ und verlautbarte außerdem: „Wir empfinden es als unsere moralische Pflicht, dem Volk von Palästina praktisch als einzige Organisation in Ungarn beizustehen. (...) Wir haben uns nicht geändert, auch wenn die westliche Welt allmählich dem Einfluss der israelischen Lobby erlegen ist. Die israelfreundlichen „Rechtsextremen“ und „Konservativen“ sind auf dem Vormarsch, und das ist ein allgemeines Phänomen, nicht nur in Westeuropa, sondern auch in unserem Land.“
In der Tat nutzte Orbáns Partei Fidesz einst als Oppositionspartei Kritik an Israel häufig, um damit aufkommenden rechtsextremen Bewegungen nachzueifern und nicht so viele Wähler an diese zu verlieren. Dies lässt Äußerungen Orbáns jetzt in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Im Jahr 2001, mitten in seiner ersten Amtszeit als ungarischer Ministerpräsident, nahm Orbán den Franz-Josef-Strauß-Preis in München entgegen. Während seines Besuchs machte er Äußerungen, die sowohl in Israel als auch im Westen Besorgnis erregten. Auf die Interview-Frage der Süddeutschen Zeitung, was er von einer Koalition mit der damals prominenten antisemitischen rechtsextremen Partei Ungarns, der MIÉP, die im Parlament saß, halte, antwortete Orbán sinngemäß: Die Linke werfe jedem Nicht-Linken ständig Antisemitismus vor, das sei er gewohnt.
Doch nach dem Skandal, den diese Äußerungen in Israel auslöste und der zu einem kleinen Teil zu seiner Wahlniederlage gegen die dem Westen wie Israel freundlich gesonnene, sozialistisch-liberale Koalition im Jahr 2002 beigetragen haben könnte, erkannte Orbán, dass er sich verändern muss. Wer ihn aus dem Schatten des Antisemitismusverdachts und in die Salons Westeuropas führte? Benjamin Netanjahu. Die Begegnung mit dem damaligen israelischen Oppositionsführer und Likud-Vorsitzenden in Jerusalem im Jahr 2005 habe Orbán für immer verändert, so der ungarische Journalist Szabolcs Panyi. Bibi und Viktor sehen sich seitdem als Waffenbrüder im Kampf gegen das, was sie als eine „organisierte internationale Linke“ betrachten.
Israels Fußball-Nationalmannschaft trägt Spiele in Orbáns Heimatstadt Felcsút aus
Den einstweiligen Höhepunkt dieser Entwicklung gab es am Donnerstag in Orbáns Heimatstadt Felcsút zu bestaunen: Die berühmt-berüchtigte Sportstätte, die sich neben dem Wochenendhaus des Ministerpräsidenten befindet, war voller Fans, die sowohl mit ungarischen als auch mit israelischen Fahnen anreisten. Sie waren gekommen, um die israelische Fußball-Nationalmannschaft beim Spiel gegen die Schweiz zu unterstützen, da ihr Team aufgrund des Krieges gezwungen ist, seine Qualifikationsspiele für die Europameisterschaft in einem sicheren Drittland auszutragen. Dieser sichere Raum war nun nicht mehr nur Ungarn, sondern das Stadion des Premierministers, die Pancho-Arena, mit all den architektonischen Zeichen des Nationalismus und des ethnischen Stolzes. Die Menge erhob sich zur israelischen Nationalhymne und legte eine Schweigeminute für die Opfer des Hamas-Anschlags ein. Ein solches Ereignis wäre in Ungarns sehr rechter Fußballkultur noch vor fünf Jahren unvorstellbar gewesen. An diesem Samstag spielt Ungarn in Felcsút gegen Rumänien ein weiteres Spiel.
Auf dem Weg zu diesem Punkt ungarisch-israelischer Eintracht gab es einige Stolpersteine, allen voran der Skandal um Orbáns geplantes „Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs“ im Jahr 2014: Die Statue auf dem Budapester Szabadság tér (Freiheitsplatz) verkörperte die Auffassung, dass die Ungarn von ihrer aktiven Beteiligung an der Ermöglichung des ungarischen Holocausts (der letzten und grausamsten Episode des Holocausts im Jahr 1944) freigesprochen werden können, da die deutsche Besetzung durch die Nazis am 19. März 1944 den vollständigen Verlust der ungarischen Souveränität bedeutet hatte. Netanjahu protestierte schließlich als israelischer Premierminister gegen das Denkmal. Die Krise geriet in Vergessenheit, als Orbán und Netanjahu 2015 eine Allianz schmiedeten, die stärker war als je zuvor, als es um die Flüchtlingskrise und die scharfe Kritik an den muslimischen Gemeinschaften Westeuropas ging, die „terroristische Elemente“ beherbergten.
Laut Panyi und seinen der Budapester Regierung nahestehenden Quellen hält diese Allianz seither, und hat schließlich die Oberhand behalten gegenüber Orbáns Schielen auf latent antisemitische Wähler – hauptsächlich deshalb, weil sich auch die Wähler durch den großen Zustrom von (meist syrischen und afghanischen) Flüchtlingen und islamistische Terroranschläge in Europa verändert und einen neuen kollektiven Feind gefunden haben. Dies alles hielt die Regierung jedoch nicht davon ab, antisemitische Bilder des Milliardärs George Soros zu verwenden, den sie beschuldigte, „organisierte Migration“ aus dem Nahen Osten nach Europa zu finanzieren.
Und auch wenn wichtige Weltereignisse wie Russlands Krieg gegen die Ukraine dieses Thema vorübergehend in den Hintergrund gedrängt haben mögen: Die Dämonisierung der westeuropäischen Muslime als „Feind im Inneren“ spielt in der Regierungspropaganda der vergangenen acht Jahre eine herausragende Rolle. Da diese Bedenken auch von prominenten jüdischen Religionsführern in Ungarn geteilt werden, bot sich ihnen eine Möglichkeit, die jahrzehntelangen (wenn nicht jahrhundertelangen) Widrigkeiten mit der nationalistischen ungarischen Rechten, die jetzt von Orbán angeführt wird, zu überwinden. In Form eines neuen gemeinsamen Feindes.
Der ungarische EU-Kommissar Olivér Várhelyi wollte alle EU-Hilfen für Palästina stoppen
Dies zeigt sich heute auch deutlich anhand der ungarischen Medienlandschaft, die fast vollständig von Stimmen geprägt ist, die Viktor Orbáns Herrschaft befürworten und unterstützen. Nach den Äußerungen des Ministerpräsidenten erklärte ein regierungstreuer Experte, László Földi, fast sofort: „Das Massaker in Israel könnte bald von islamistischen Elementen in Europa nachgeahmt werden.“ Die Berichterstattung über pro-palästinensische Proteste in den regierungsnahen Medien zeigte vor allem Frauen in Burkas, die palästinensische Fahnen schwenkten, oder junge Menschen, die rote Transparente trugen. Gleichzeitig wurden auch pro-israelische Mahnwachen gezeigt, die Gewalt und düsteres Gedenken visuell gegenüberstellten. In einer auf der Internetseite der Regierung veröffentlichten Analyse wurden „linker Antisemitismus“ und „israelfeindliche linke Organisationen“ für die Unterstützung des Terroranschlags verantwortlich gemacht und politische Maßnahmen gegen die „extreme Linke“ als Ausweg hervorgehoben.
Das ist ähnlich manipulativ wie die Berichterstattung Orbán-naher Medien über die Schüsse, die jüngst in Brüssel zwei schwedische Fußballfans das Leben gekostet haben. Obwohl sich schnell herausstellte, dass der Angreifer, der bei dem Schusswechsel getötet wurde, im Auftrag der Terrorgruppe Islamischer Staat handelte, um sich für die Koranverbrennungen in Stockholm zu rächen, behaupteten Regierungsmedien in Ungarn, der Angriff sei durch eine pro-palästinensische Gesinnung motiviert gewesen. Sie betonten auch, dass der Terrorist während der Flüchtlingskrise aus Tunesien nach Belgien gekommen und zunächst auf der Insel Lampedusa gelandet war.
Vielsagend ist auch das rasche Handeln von EU-Kommissar Olivér Várhelyi, der – zweifellos im Auftrag der ungarischen Regierung – unmittelbar vor der Belagerung des Gazastreifens durch Israel versuchte, alle EU-Hilfen für Palästina zu streichen. Várhelyis Versuch wurde zwar abgelehnt, aber die ungarischen Medien griffen die Kritiker des Kommissars dennoch an. Einer von ihnen, der französische Europaabgeordnete Mounir Satouri, wurde in der ungarischen Presse als „arabischer Abgeordneter“ bezeichnet. In ähnlicher Weise wurden Demonstranten in Westeuropa, die häufig antijüdischen Hass zum Ausdruck brachten, pauschal als „Araber auf den Straßen des Westens“ bezeichnet. Dies ist eine neue Ebene der narrativen Trennung, die die frühere Formel von westeuropäischen Muslimen, die einfach als „Migranten“ oder „Menschen mit Migrationshintergrund“ bezeichnet wurden, ersetzt.
Zweifellos steht für Orbán nach dem Nahostkonflikt viel auf dem Spiel: Nachdem er aufgrund seiner Ansichten und Handlungen nach der russischen Invasion in der Ukraine von den meisten westeuropäischen Ländern isoliert wurde, bietet ihm das gegenwärtige Klima eine neue Möglichkeit, sich zu rehabilitieren und in die Brüsseler (oder Berliner) Salons zurückzukehren, die er so sehr vermisst. Immerhin hat er sich 2015 einen Namen als führende Stimme der einwanderungsfeindlichen und islamophoben Kräfte in Europa gemacht.
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