Vom Leben meiner Mutter bleibt, was sie für andere getan hat

Meinung Die Mutter von Marlen Hobrack ist vor Kurzem gestorben. Beim Blick zurück auf ihr vergangenes Leben und die viele – für selbstverständlich gehaltene – (Fürsorge-)Arbeit ihrer Mutter wird deutlich: Auch im Tod ist Mutterschaft noch politisch
Ausgabe 20/2023
Alles ist Arbeit, auch die Trauer um einen geliebten Menschen
Alles ist Arbeit, auch die Trauer um einen geliebten Menschen

Foto: picture alliance/imageBROKER/Heiner Heine

Vor einer Woche ist meine Mutter verstorben. Das Ereignis, vor dem ich mich immer gefürchtet habe, schon als Kind, das sich in finsteren Momenten ausmalte, dass es allein und haltlos in der Welt zurückbleiben könnte, ist noch so frisch, dass es umgeben ist von einer Wolke aus Verdrängung und Taubheit. Ich spüre keinen Schmerz, weine nicht einmal besonders viel; natürlich gibt es sie, die Momente, in denen Gedanken an meine Mutter Tränen in meine Augen treiben. Lass dich drücken, sagt meine Schwiegermutter und umarmt mich fest. Eine mütterliche, warme Umarmung; alle Schleusen öffnen sich.

Dieser Tage denke ich über den Begriff der Trauerarbeit nach. Interessanter Begriff, nicht wahr? Denken wir beim Trauern doch zuallererst an Leiden, an Verzweiflung und Wut. In gewisser Weise sind auch diese Gefühle Arbeit, insofern, als sie uns intensiv beschäftigen. Arbeit ist Mühsal, so der mittelhochdeutsche Wortsinn, auch in diesem Sinne ist Trauern Arbeit.

Seit ein paar Tagen arbeite ich unermüdlich. Ich schreibe nicht nur. Ich grabe den Garten um, putze die Wohnung. Ich meine gründliches Putzen, ein Marie-Kondo-Putzen, bei dem kein Kleidungs- oder Erinnerungsstück im Schubfach verbleibt, alles wird herausgenommen, inspiziert. Does it spark joy? Nichts erzeugt Freude. Es ist ein mechanisches Arbeiten. Dabei denke ich über das Leben meiner Mutter nach, das aus Arbeit bestand, Arbeit war. Ich denke darüber nach, wie viel Energie und Arbeit sie in das Leben ihrer Kinder investiert hat und wie sie bis zuletzt daran scheiterte, auf sich selbst achtzugeben; die einzige Pflicht, die sie sträflich vernachlässigte, war die Pflicht zur Selbstfürsorge.

Ich denke daran, dass sie sich kaputt gearbeitet hat. Ich denke daran, dass ihr letzter Arbeitgeber, als er von ihrem Aufenthalt auf der Intensivstation erfuhr, allen Ernstes fragte, wann sie denn wieder arbeiten könne. Es handelte sich um einen Arzt. Ich denke daran, dass meine Mutter ihren hart erarbeiteten Ruhestand nicht auskosten konnte.

Neulich war ich im Rahmen einer Lesung in einem Hotel mit integrierter Seniorenresidenz untergebracht. Mein Zimmer befand sich direkt auf einem Flur mit Wohnungen, deren Türschilder von Titel und Status der Bewohner kündeten. Darunter viele Doktoren. Beim morgendlichen Gang zum Buffet begegneten mir hochbetagte Männer, die soeben eine Runde im Swimmingpool gedreht hatten. Ich gönne diesen Männern ihren angenehmen Lebensabend, ehrlich. Nur hätte ich ihn ebenso meiner Mutter gegönnt.

Ich schriebe all das nicht auf, wenn ich glaubte, dass es sich nur um ein persönliches Schicksal handelt. Mutterschaft ist politisch. Jede Form der Arbeit ist politisch. Doch dasselbe gilt für das Sterben. Wenn etwa in Rentendebatten mantraartig wiederholt wird, dass „wir alle länger leben“, dann ist das eine statistische Wahrheit, die eine andere statistische Wahrheit überdeckt: Dass die Lebenserwartung von Arbeitern, von sogenannten Bildungsfernen und Einkommensarmen unter jenen von Gutsituierten und Beamten liegt. Diese „Wahrheit“ blendet aus, dass viele Frauen der Generation meiner Mutter ein Leben lang doppelt belastet waren: Als Arbeiterinnen, als Mütter.

Nicht wenigen Müttern geht es heute noch so. Wenn sie zugunsten der Kinder beruflich zurückstecken, droht ihnen Altersarmut. Bleiben sie vollzeitberufstätig, droht ihnen der Burn-out. Fragt sich also, ob wir wirklich alle länger arbeiten können.

Vom Leben meiner Mutter bleibt, was sie für andere getan hat. Ein selbstloses Leben, eigentlich eines, das ein Ideal von Mutterschaft einlöst. Allerdings ein falsches Ideal im Dienst der Ausbeutung.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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