„Waldeck“ von Jürgen Heimbach: Finale beim Festival im Hunsrück

Krimi Eine Shoah-Überlebende ist tot, kurz nachdem sie einen KZ-Arzt wiedererkannt zu haben glaubte. In „Waldeck“ erzählt der Koblenzer Schriftsteller Jürgen Heimbach Geschichte als Generationenkonflikt und von ersten Schritten der Emanzipation
Ausgabe 15/2024
„Waldeck“ von Jürgen Heimbach: Finale beim Festival im Hunsrück

Foto: Imago / Klaus Rose

Es ist der Mai 1964 – das erste „Freiluft-Musikfestival“ in Deutschland steht bevor, auf der Burg Waldeck im Hunsrück. Fast 20 Jahre liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück, aber die dunklen Schatten der Vergangenheit hängen noch tief über dem Land. In Frankfurt am Main läuft der erste Auschwitz-Prozess, bei dem erstmals SS-Mitglieder vor einem deutschen Gericht wegen Mordes zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist der historische Kontext des neuen Romans des Koblenzer Schriftstellers Jürgen Heimbach.

In einem Dorf nahe Burg Waldeck versucht die 20-jährige Bauerstocher Mine ihre Schwangerschaft zu verbergen und für eine Liebe zu kämpfen, die den Eltern nicht passen wird. Ihr Opa feiert ihren Geburtstag am 8. Mai regelmäßig nicht, weil er ihn an den Tag der deutschen Kapitulation erinnert. Ob er Nazi ist? „Das war ein Thema, über das in ihrer Familie nicht gesprochen wurde.“ Außer wenn Opa und Onkel Gerd, der im Krieg zwei Söhne verloren hat, stritten und sie weggeschickt wurde. „Der Krieg war weit weg, sie alle hatten was geschafft (…), sie mussten nur aufpassen, dass die Kommunisten ihnen nicht alles kaputt machten.“

Gegen die Kultur des Verschweigens versucht im Roman der Journalist Ferdinand Broich anzugehen, der einen Tipp bekommen hat: Eine Holocaust-Überlebende will in München einen Zahnarzt aus dem KZ Majdanek erkannt haben. Drei Tage später ist die alte Dame tot. An einen Zufall glaubt Broich nicht. Fast gleichzeitig entdeckt die Tochter des Zahnarztes belastende Dokumente in einer Aktentasche und „mit ihr, dass nicht nur das Leben ihres Vaters, sondern auch ihres auf einer Lüge basierte“. Silvia flieht, vor dem Vater und dessen „Werten“, vor dem Verlobten, den er für sie vorgesehen hat, der Zukunft, die sich nicht mit ihrem Wunsch deckt, Kunst zu studieren. Mit ihr reisen die Aktentasche und die Fragen nach ihrer eigenen Identität und was sie mit den Dokumenten anfangen soll.

Dann nimmt der Krimi an Fahrt auf, neben dem Journalisten heftet sich ein weiterer Verfolger an Silvias Fersen, ein früherer „Kamerad“ des Vaters, der nicht nur gerne gärtnert. Er hat als pensionierter BND-Mitarbeiter auch beste Verbindungen. Nach dem Krieg hatte ihn ein weiterer „Kamerad“ in die Organisation Gehlen geholt, den Vorläufer des BND, in dem viele Ex-Nazis erneut Karriere machten, ähnlich wie in Politik und Justiz.

„Gammler“ im Baybachtal

Aber zurück zur Aktentasche: In VW-Käfer, Renault und Opel führt die Verfolgungsjagd über Hindernisse und das Rheintal hoch in den Hunsrück, wo statt Kühen parkende Autos, Leute mit Rücksäcken, Sängerinnen und Gitarrenspieler, Zelte und offene Feuerstellen die Wiesen rund um die Burg Waldeck in Beschlag nehmen. Während Mines Opa weiter das „Horst-Wessel-Lied“ pfeift und auf die afroamerikanischen GIs schimpft, hat er gehört, dass „ins Baybachtal so Gammler kommen“, vermutlich Kommunisten, die ausländische Musik und Theater machen.

Die „Gammler“ planen das Musikfest auf der Burg Waldeck, auf der es dann später zu einem dramatischen Finale kommt. Hier hatten früher „die Bündischen“ ihren Sitz, ein unter anderem aus dem „Wandervogel“ hervorgegangener Jugendbund, der unter den Nationalsozialisten verboten wurde. Denn das erste Waldeck-Festival wollte nicht nur den deutschen Chanson fördern. Politisch forderte man vor dem Hintergrund des Eisernen Vorhangs ein vereintes Europa, inklusive der osteuropäischen Länder. „Die Hand nach Osten auszustrecken“, kommentiert Journalist Broich, „damit macht man sich viele Feinde.“

In Waldeck erzählt Heimbach Geschichte als Generationenkonflikt, vom Umgang mit der Vergangenheit, von ersten Schritten der Emanzipation. Leider bleiben die Charaktere zumeist holzschnittartig und der Plot treibt zuweilen wilde Blüten. Historisch gut recherchiert lenkt der Autor aber die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte, in dem Welten aufeinanderprallen und der Aufbruch zu spüren ist.

Waldeck Jürgen Heimbach Unionsverlag 2024, 352 S., 19 €

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