Viel ist seit Russlands Invasion in der Ukraine von einer „Zeitenwende“ die Rede. Nicht zuletzt in den linksliberalen Milieus, in denen noch unlängst der Kriegsdienst verpönt war, hört man: Die Freiheit muss „auch mit der Waffe in der Hand“ verteidigt werden! Alles andere sei naiv und hasenfüßig. Pazifismus und die Idee der Gewaltfreiheit, also Werte, die in jenen Milieus einst fest verankert waren, werden belächelt, gehasst und verspottet.
Aber ist der gewaltfreie Widerstand wirklich so unmöglich, wie er gemacht wird? Der zentrale Wert einer Wehrhaftigkeit ohne Waffen ist die Unversehrtheit menschlichen Lebens – und nicht die Unversehrtheit staatlicher Territorien. Das ist ein entscheidender Unterschied. Sobald ein angegriffe
angegriffenes Land sich für militärische Territorialverteidigung entscheidet, ist der Schutz menschlichen Lebens nicht mehr zentral. In diesem Moment entsteht aus der Aggression ein Krieg. Es wird getötet – und gehasst, und der Hass wird handlungsleitend und diktiert das grausame Kriegsgeschehen – auf beiden Seiten.Soziale Verteidigung hat zum Ziel, diesen Selbstlauf der Eskalation von Gewalt gar nicht erst in Gang zu setzen. Ihr geht es darum, die Institutionen für die angegriffene Gesellschaft zu bewahren. Den Aggressoren wird jede Kooperation verweigert: Ohne sie ist eine angreifende Macht nicht in der Lage, ein erobertes Land zu funktionalisieren. Sie würde folglich alles daransetzen, auch gewaltlosen Widerstand gewaltsam zu brechen, um diese Kooperation zu erzwingen. Daraus ergibt sich für die Soziale Verteidigung die Notwendigkeit, mit der Bevölkerung präventiv Reaktionen auf eine Aggression einzuüben.Es gilt, den Versuchen der Angreifenden zu widerstehen, Gegengewalt zu provozieren, um mit ihr die eigene Gewalt zu rechtfertigen. Das ist nicht ohne. Gewaltakte bis hin zu Exekutionen sind zu erwarten, wenn die Verteidiger den Okkupanten die Kooperation verweigern. Eine entschlossene Invasion wird also auch bei gewaltfreier Sozialer Verteidigung menschliche Opfer für die Angegriffenen zur Folge haben.Punktuell fraternisierenEntscheidend ist jedoch, dass das ungeheure Ausmaß an Tod und Vernichtung der Lebensgrundlagen verhindert werden kann, das ein Krieg mit sich bringt. Je länger die Verteidigenden konsequent Gewaltfreiheit praktizieren, desto länger besteht aufseiten der Angreifenden eine menschliche Hemmschwelle, gewaltsam gegen friedliche Menschen vorzugehen.All das heißt nicht, die andere Wange hinzuhalten. Soziale Verteidigung ist nicht konfliktscheu oder „feige“. Der deutsche Politologe Theodor Ebert, der das Konzept der Sozialen Verteidigung in Deutschland maßgeblich ausgearbeitet hat, hat eine Vielzahl von Taktiken entwickelt, die viel Mut erfordern, wie die Missachtung der Anordnungen der Aggressoren, insbesondere Ausgangssperren, die stets zu den ersten Maßnahmen eines Aggressors gehören. Mit allen verfügbaren Kommunikationsmitteln ist die Bevölkerung zum Widerstand aufzurufen. Industrie, Handel, Verwaltung, Schulen, Universitäten sind auf Widerstandshandlungen einzustellen. Wichtig ist es, die Initiative zu übernehmen. Ein „Widerstandsrat“ sei zu bilden, für zentrale Aufgaben müssen Ersatzleute bereitstehen.Ebert betonte, dass die Angreifenden nicht als homogener Block betrachtet werden dürfen, man muss punktuell mit ihnen fraternisieren. Und gibt es in der angegriffenen Gesellschaft Gruppen, die der Aggressor als Verbündete sieht, muss versucht werden, auch diese zur Solidarität oder zumindest Passivität zu bewegen. Denn das ist eine Maxime Sozialer Verteidigung: Je größer die Identifikation der Bevölkerung mit den Werten und Institutionen des angegriffenen Landes ist, desto wirksamer wird sie. Eine Gesellschaft, die weder Armut noch Unterdrückung kennt, würde nicht nur der eigenen Bevölkerung höchst verteidigenswert erscheinen – sie würde die Angreifenden an ihrer eigenen Befreiungspropaganda zweifeln lassen.Gewaltloser Widerstand in der GeschichteIst das nicht doch naiv? Wie lässt sich der Krieg in der Ukraine aus dem Blickwinkel Sozialer Verteidigung betrachten? Stellen wir zunächst fest: Obwohl Soziale Verteidigung nirgendwo systematisch eingeübt wurde, gibt es dennoch zahlreiche Beispiele wirksamen gewaltlosen Widerstands in der Geschichte.Da war der gewaltlose Widerstand der indischen Unabhängigkeitsbewegung unter Mahatma Gandhi gegen die britische Kolonialmacht. Da waren die Dänen, die unter der deutschen Besatzung die Juden nicht – wie von den Okkupanten gefordert – ausgeliefert haben; da war der norwegische Lehrerverband, der sich erfolgreich geweigert hat, während der deutschen Besatzung die NS-Ideologie an die Schulen zu bringen. Im sogenannten Ruhrkampf 1923 wurde der Abtransport von Rohstoffen nach Frankreich auch durch passiven, gewaltlosen Widerstand stark behindert.Nun gab es auch in den Anfängen des Ukraine-Kriegs wirkungsvollen gewaltlosen Widerstand, der aber im Umfeld der militärischen Gegenwehr aussichtslos bleiben musste. Die territoriale Integrität des Landes, vom Völkerrecht garantiert, stand von Anfang an konsequent im Zentrum des Denkens und Handelns. Nicht gegeben war auch jenes Bemühen um einen politischen Ausgleich unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, das Ebert als Voraussetzung Sozialer Verteidigung nennt: Ein Kulturkampf gegen das Russische ging dem heißen Konflikt voraus und befeuert ihn weiter im Hintergrund. Wo es um Angriff und Gegenangriff, um Eroberung und Rückeroberung von Territorien geht, hat gewaltfreier Widerstand keinen Platz.Nein, die Soziale Verteidigung hat in diesem Konflikt keine Möglichkeit, sich zu entfalten. Sie ist einmal mehr utopisch. Naiv aber bleibt im geopolitischen Streit der Mächte die Idee, diese Welt lasse sich nach der Logik der Landkarten und Feldherrenhügel zu einem besseren Ort für die Menschen machen.Placeholder authorbio-1