Hakan Taş zum Erdbeben in der Türkei: „Wir haben die nackte Angst gesehen“

Interview Der Berliner Linken-Politiker Hakan Taş befindet sich als Beobachter beim Kobanê-Prozess in der Türkei. Das Erdbeben im Südosten des Landes überraschte ihn in der Nacht zum Montag
Rettungseinsatz in Diyarbakır: Bei dem Erdbeben wurden viele Gebäude zerstört
Rettungseinsatz in Diyarbakır: Bei dem Erdbeben wurden viele Gebäude zerstört

Foto: Ilyas Akengin/AFP/Getty Images

der Freitag: Herr Taş, es ist alles überhaupt nicht fassbar, in was für einer schlimmen Situation sich der Osten der Türkei befindet. Sie waren, als das Erdbeben der Stärke 7,8 den Südosten der Türkei traf, in Diyarbakır. Wann haben Sie in der Nacht gemerkt, dass dies eine nicht zu überschätzende Naturkatastrophe ist?

Hakan Tas: Ich konnte mir in dem Moment nicht erklären, was gerade passiert – obwohl ich erdbebenerfahren bin. Meine Erfahrungswerte aus zwei vorherigen Erdbeben in Istanbul und Bodrum haben mir trotzdem nichts genützt, ein so starkes Erdbeben habe ich nie erlebt. Um kurz nach vier Uhr morgens hat sich alles bewegt, alles wackelte – ich konnte mich kaum auf den Beinen halten und bin hingefallen. Erst in dem Moment habe ich reflektiert, was passiert. Ich zog mich schnell an und klopfte bei den Kolleginnen der Delegation an den Zimmertüren, die ebenfalls in Diyarbakır waren, um sie zu warnen. Eine umsichtige Abgeordnete der HDP hat uns allen aufs Handy eine Nachricht geschickt. Sie schrieb uns, dass wir das Hotel so schnell wie möglich verlassen sollten, auch wegen der Nachbeben, die es ja gab und immer noch gibt.

Warum waren Sie in Diyarbakır?

Seit Samstag sind wir zusammen mit der Linken-Chefin Janine Wissler in der Türkei und trafen am Sonntag Frauenorganisationen und Gewerkschaften in der Stadt. Wir wollten auch Başak Demirtaş, die Frau sowie die Eltern des inhaftierten HDP-Politikers Selahattin Demirtaş treffen. Eigentlich sind wir ja hier, um als internationale Beobachter den Kobanê-Prozess zu begleiten, der am Dienstag beginnen soll.

Im Kobanê-Prozess sind 108 Mitglieder der HDP angeklagt, unter anderem die Führungsriege der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdaĝ, die sich seit Jahren in Untersuchungshaft befinden. Es drohen ihnen erneut langjährige Haftstrafen, wenn das Urteil gesprochen werden sollte.

Genau, das Verfahren wird am heutigen Dienstag wahrscheinlich eröffnet und anschließend vertagt, so zumindest wurde uns von Beobachtern am Montag mitgeteilt. Eine Entscheidung wird es also nicht geben. Das sagten uns die juristischen Vertreter der HDP in Gesprächen. Auch das Erdbeben wird ein Grund dafür sein, dass der Prozess vertagt wird. Viele der Inhaftierten sitzen in mehreren Gefängnissen verteilt im Land und werden über ein Videoschaltsystem zugeschaltet, das wird aber aufgrund des Erdbebens nicht möglich sein – wegen der zusammengebrochenen Internetverbindung im Osten des Landes.

Wie wichtig ist dieser Prozess für die HDP?

Die Entscheidung wird eine wichtige Rolle spielen. Nach dem Urteil werden höchstwahrscheinlich politische Betätigungsverbote verhängt. Das bedeutet, dass sie bei den nächsten Wahlen nicht kandidieren dürfen. Das ist eine besondere Schwierigkeit für die HDP. Wir haben erfahren, dass das Parteiverbotsverfahren nicht vor den Wahlen, sondern nach den Wahlen zu Ende geführt wird und die HDP möglicherweise verboten wird.

Also nicht vor den Wahlen in diesem Jahr?

Vor den Wahlen kann es dazu führen, dass eine HDP-Liste antritt, aber nach den Wahlen die gewählten Vertreterinnen und Vertreter zwar ihre Amtsanerkennung bekommen, sie aber nicht in ihr Amt eingeführt werden. So wird die HDP vielleicht bei den Wahlen einen Erfolg verbuchen können, am Ende werden die Vertreterinnen nicht im türkischen Parlament sitzen. Die HDP-Spitze bereitet sich aber auf diesen Fall vor, wie wir hier bei Gesprächen feststellen konnten.

Nochmal zurück zum Erdbeben: Als sie aus dem Hotel in Diyarbakır auf die Straße traten, welche Situation fanden Sie vor?

Wir haben die nackte Angst gesehen. Weinende Menschen, ohne Schuhe und ohne Socken auf der Straße. Eigentlich sind für solche Katastrophen Versammlungsorte in einer Stadt vorgesehen, wo man Schutz suchen kann. Zumal wir uns in einem Erdbebengebiet befinden. Die gab es aber nicht. Das Problem war, dass die Menschen zwar auf die Straßen geflüchtet sind, aber nicht wussten, wohin.

Konnten Sie denn sehen, wie sehr die Stadt und die Gebäude beschädigt waren?

Zumindest für Diyarbakır, wo wir uns bis Montagvormittag aufhielten, kann ich sagen, dass viele Neubauten eingestürzt sind. Das kann man den Menschen in der Türkei gar nicht mehr erklären, dass sogar die neuesten Bauten einstürzen. Für den Erdbebenschutz hat diese Regierung, die seit fast 21 Jahren an der Macht ist, nichts getan. Leider sind deshalb viele Menschen verletzt oder gestorben und es liegen noch viele Menschen unter den Trümmern.

Aber das Ausmaß des Erdbebens war Ihnen am Montagmorgen bewusst?

Erst im Laufe des Tages. Aktuell wird derzeit (Stand: Dienstag, 11 Uhr) von über 3000 Toten in der Region gesprochen. Ich habe mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sprechen können, die von dem schlimmsten Erdbeben seit Jahren sprechen und befürchten, dass noch Tausende Menschen unter den Trümmern liegen und wir mit weit über 10.000 Toten rechnen müssen. Insgesamt sind zehn Städte im kurdischen Teil der Türkei von dem Erdbeben betroffen.

Haben Sie denn in Erfahrung bringen können, wie die Rettungsarbeiten vorangehen?

Der offizielle Katastrophenschutz, der sich in der Türkei AFAD nennt, hat die betroffenen Großstädte erreicht. Ist aber bisher, meines Wissens nach, nicht in die Kreisstädte und die Dörfer vorgedrungen. Es wird befürchtet, dass in kleineren Ortschaften mit vielen weiteren Toten zu rechnen ist, denen nicht früh genug geholfen werden kann.

In den sozialen Medien wurde am Montag früh berichtet, dass in einigen Gebieten Zufahrtsstraßen und Brücken kaum zugänglich sind.

Diese Meldungen habe ich auch gesehen. Es wird berichtet, dass Straßen und Brücken stark beschädigt und nicht befahrbar sind. Dazu sind die Flughäfen der besonders betroffenen Städte Adana, Hatay und Kahramanmaraş geschlossen.

Besonders nach dem verheerenden Erdbeben in Düzce im Jahr 1999 mit über 17.000 Toten dachte man, es gebe ein Bewusstsein dafür, dass die Türkei eines der Länder in Europa mit der größten Erdbebengefahr ist. Warum wurden die Sicherheitsmaßnahmen, die damals versprochen wurden, nicht fortgeführt?

Der Staat scheint andere Interessen zu verfolgen. Schutzmaßnahmen im Erdbebengebiet scheinen nicht wichtig zu sein.

Über 45 Staaten haben sich am Montag bereiterklärt, der Türkei bei der Bergung und Rettung zu helfen. Wie schnell wird die Hilfe ankommen?

Viele Autobahnen sind nicht durch das Erdbeben, sondern auch durch den starken Schneefall zu, die internationale Hilfe wird nur schwer ankommen. Gebraucht werden aber vor Ort technische Geräte. Bei einem Erdbeben dieses Ausmaßes sollte sie eigentlich noch schneller vor Ort sein, wegen der kalten Jahreszeit. Dazu sind viele Menschen jetzt plötzlich obdachlos, auch diese Menschen brauchen unsere Unterstützung. Warme Zelte und vor allem sauberes Trinkwasser sind gerade Mangelware. Dazu kommt, dass in diesen Gebieten Menschen mit einer finanziell schwierigen Lage, sprich: viele armen Menschen leben, die jetzt nicht nur von unserer Solidarität und Empathie überleben werden.

Viele Menschen, nicht nur mit familiären Bezügen in die Türkei und vor allem in den Osten des Landes, sind geschockt und wissen nicht, wie helfen. Die ersten Hilfsaktionen werden heute schon von mehreren Organisationen koordiniert. Haben Sie eine Idee, ob die Hilfe ankommt, wo sie gebraucht wird?

Das wichtigste ist, dass die Spenden auch bei den Menschen ankommen. Insofern würde ich nicht an die staatlichen Stellen, also auch nicht an den Katastrophenschutz in der Türkei spenden. Die Regierung bestimmt am Ende darüber, wohin die Hilfe gelangt – oder eben nicht. In die kurdischen Regionen wird die Hilfe sicherlich kaum ankommen. Es gibt mehrere Spendenkampagnen von kurdischen und alevitischen Organisationen, von denen ich erfahren habe. Aber auch meine Partei wird sicherlich noch zu einer Spendenkampagne aufrufen. Die deutsche Botschaft in Ankara hat heute bestätigt, dass aus Deutschland zumindest technische Geräte und Katastrophenschutz gewährt wird.

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Geschrieben von

Ebru Taşdemir

Redakteurin „Politik“

Ebru Taşdemir studierte Publizistik und Turkologie an der FU Berlin und arbeitete als freie Autorin für verschiedene Medien. 2017-2019 war sie Redakteurin der deutsch-türkischen Medienplattform taz.gazete. Von 2019 bis 2022 war sie Chefin vom Dienst im Berlin-Ressort der taz. Sie ist Mitglied der Nominierungskommsission Info und Kultur des Grimme-Preises und Kolumnistin der Reihe „100 Sekunden Leben“ im Inforadio des rbb. Beim Freitag ist sie mit den großen und kleinen Fragen rund um Feminismus, Gender, Teilhabe und Migration betraut.

Ebru Taşdemir

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