Eisblumen glitzern an den Fenstern, draußen wandeln Gestalten aus Kinderbüchern, mit blauen Pudelmützen, roten Schals und dicken Handschuhen, die Sonne strahlt schwach durch die winterlichen Äste, und drin in der Stube versammelt sich die Familie (oder die Wohngemeinschaft), um sich zu wärmen bei molligen ... ja, wie warm ist es in Ihrem Wohnzimmer? Patriotische 18 Grad? Pazifistische 19 Grad? Heldenhafte 17, oder luschige 21 Grad? Zwischen Wirtschaftskrieg, explodierenden Energiekosten und Klimakrise scheint die Frage, wie viel Wärme man braucht – oder wie viel Kälte man aushält –, zu einer politischen Frage geworden zu sein, die unser Körperinneres durchzieht. Komisch, dass die Vorstellung von Warmduschern noch immer so moralisch aufgeladen scheint – verhält es sich mit Körpern doch wie mit heimischen Wohnzimmern: Je effizienter die Heizung und je besser die Isolation, desto einfacher ist ein Körper warm zu halten. Und wie bei den Wohnungzimmern gilt leider: Unsere Körperheizungen und unsere Körperisolationen sind sehr ungleich verteilt.
Beginnen wir mit der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Wenn wir frieren, verengen sich die Blutgefäße – die Hauttemperatur sinkt, Finger und Zehen kühlen aus, danach Arme und Beine. Der Körper schottet sich nach außen ab und wärmt seine lebenswichtigen Organe. Dann fangen wir an zu zittern: Unsere Muskeln sind unsere Heizung, sie produzieren Wärme. Nun haben Männer – durchschnittlich! Überlesen Sie bitte nicht das „durchschnittlich“ – etwa 25 Prozent mehr Muskelmasse als Frauen, ihre Heizung ist also größer. Noch dazu ist die Haut bei Frauen – durchschnittlich! – um 15 Prozent dünner als bei Männern, ihre Isolation ist also schlechter. Dass sie dabei mehr Fett haben, gleicht diese Ungleichheit leider nicht aus. All das liegt an den Hormonen, Testosteron ist für den Muskelaufbau zuständig, Östrogen fördert zarte Haut und Fettproduktion. Und hier noch mal zum „durchschnittlich“: Es gibt viele muskulöse Frauen, die weniger frieren, und unmuskulöse Männer, die mehr frieren. Und es gibt Hormontherapien. Wer Testostoron zu sich nimmt – wie etwa trans Männer –, entwickelt auch mehr Muskeln. Die Grenzen zwischen Geschlechtern sind fließend.
Wärme macht Frauen klüger
Diese körperlichen Unterschiede treffen nun in den Wohnungen und Büros dieser Welt aufeinander – in kollektiven Räumen also, in denen man sich auf eine gemeinsame Temperatur einigen muss. Leider ist es so, dass die Temperatur in den Büros das Leistungsvermögen der Geschlechter ganz unterschiedlich beeinflusst: Je wärmer, desto besser sind die Denkfähigkeiten von Frauen – und je kälter, desto besser sind die Denkfähigkeiten von Männern.
Das fanden die britischen Wissenschaftlerinnen Tom Y. Chang und Agne Kajackaite 2019 heraus. Für ihr Experiment luden sie über 500 Menschen aller Geschlechter zur Technischen Universität Berlin, um bei Temperaturen zwischen 16 und 33 Grad Denkaufgaben zu lösen. Sie mussten zuerst zweistellige Zahlen addieren und dann möglichst viele Wörter aus zehn Buchstaben wie ADEHINRSTU bilden. Die Frauen schnitten bei höheren Temperaturen deutlich besser ab als bei niedrigeren: Sie lösten mehr Aufgaben und machten weniger Fehler. Bei Männern war es genau andersherum. „Unsere Ergebnisse legen nahe“, folgerten die Forscherinnen, „dass an geschlechtergerechten Arbeitsplätzen die Temperaturen deutlich höher als die derzeitigen Standards eingestellt werden sollten.“ Das ist in einem Winter der 19-Grad-Bürotemperatur, der Klimakrise, des Wirtschaftskriegs und der hohen Energiepreise keine gute Nachricht für Frauen.Nun ist aber nicht nur die Fähigkeit der Körper ungleich verteilt, sich selbst zu heizen und gegen Kälte zu isolieren – sondern auch die körpereigene Normaltemperatur. Ein Kind hat durchschnittlich eine Körpertemperatur von 37 Grad, Erwachsene eher 36 bis 36,5 Grad, ältere Menschen liegen meist noch darunter. Außerdem wärmt sich ein Körper in der zweiten Zyklushälfte, nach dem Eisprung also, um 0,2 Grad Celsius auf, um bei der Periode auf 36,6 Grad zurückzusinken. Aber ist diese Ungleichheit der Körperwärme ein Problem?Leider fand jüngst der Berliner Biochemiker Florian Heyd heraus, dass eine niedrigere Körpertemperatur schlecht ist, wenn es um die Abwehr von Grippe-, Erkältungs- oder Coronaviren geht. An der Freien Universität Berlin unternahm sein Team eine Reihe von Versuchen an Zellen, die auf das Coronavirus reagieren mussten. Das Ergebnis: Schon ein Grad mehr in der Zelltemperatur macht einen großen Unterschied für die Abwehrkraft gegen Krankheiten. Für das Magazin campus.leben der FU Berlin erklärte es mir Professor Florian Heyd so: „Die Klasse von Proteinen im Körper, die für die Abwehr des Sars-Cov2-Virus zuständig sind, reagiert auf Wärme. Und zwar sehr genau: Schon ein Grad Unterschied bei der Körpertemperatur genügt, um die antiviralen Gene ‚anzuschalten‘.“Placeholder infobox-1Vom Fieber kennt man diese biochemische Reaktion bereits: Bei über 38 Grad produziert der Körper in der sogenannten Heat-Schock-Antwort Proteine zur Bekämpfung von Viren oder Bakterien. Heyd konnte im Frühjahr 2022 nun zeigen, wie diese Immunabwehr schon innerhalb der Normaltemperatur zunimmt. Heyd kann damit also erklären, warum Kinder mit Corona so viel besser klarkommen als Erwachsene: weil Kinder eine um ein Grad höhere Körpertemperatur haben! Dadurch werden in ihren Zellen mehr Interferone produziert (für alle Covid-Nerds und Drosten-Ultras: Es geht konkret um das STAT2-Protein, „Signal Transducer and Activator of Transcription“, das entscheidend ist für die Produktion von Interferonen für die Virusabwehr). Also: Je wärmer ein Körper, desto mehr Interferone, desto schneller ist ein Erkältungs- oder Coronavirus besiegt.Heißt das etwa, dass ein wärmerer Körper gesünder ist? So weit würde Florian Heyd wohl nicht gehen – aber er ist „überzeugt, dass die Körpertemperatur für unsere Gesundheit insgesamt eine wesentlich größere Rolle spielt, als wir bislang angenommen haben“. Tatsächlich hat man in Finnland herausgefunden, dass mehrere Saunagänge pro Woche vor Alzheimer schützen können. Heyd geht davon aus, dass dies mit dem Protein Tau zu tun hat, das für die Neurodegeneration verantwortlich ist, in zu großer Anzahl also Nervenzellen zerstört. Auch ist erwiesen, dass regelmäßiger Sport hilft, Depressionen vorzubeugen und zu überwinden – das könnte auch daran liegen, dass sich die Körpertemperatur beim Sport auf bis zu 38 Grad erhöht. Und selbst in der Behandlung von Krebs können Ärztinnen mit gezielter Wärmetherapie („Hyperthermie“) Erfolge erzielen. Das wiederum hat mit dem Protein in unseren Zellen zu tun, das Tumore bekämpft und bei höheren Temperaturen aktiver wird: das Protein Phosphatase PP2A.Wollsocken und PudelmützeDass Pudelmütze, Schal, Wollsocken und Wärmflasche gegen Erkältung helfen – das stimmt also doch. Die Omas hatten recht. Das bedeutet in Zeiten der Energiekrise aber auch: Ein mangelnder Zugang zu Wärme trifft manche Menschen wesentlich schlimmer als andere. Wenn Frauen* (und unmuskulöse, erkrankte oder ältere Männer) zwar mehr Wärme brauchen als Männer* (und muskulöse Frauen), die Temperatur aber für alle gleich niedrig bleibt, dann leiden nicht alle gleich. Manche Menschen werden von der Kälte krank, und andere nicht. Das ist nicht nur eine biologische Ungleichheit, sondern auch eine soziale: Ausgeruhte und wohlgenährte Körper benötigen weniger Wärme als müde, gestresste und überarbeitete Körper. Sie sind nicht nur anfälliger für Grippe und Corona, sondern auch für Alzheimer, manche Krebsarten und Depression.Kälte auszuhalten, das ist also keine Heldentat, sondern eine Fähigkeit, die in unserer Gesellschaft ganz ungleich verteilt ist. Hinter den vereisten Fenstern sitzen keine Kältehelden oder Wärmeluschen. Sondern bloß unterschiedliche Häute und Zellen. Menschen halt.