Für die Liebe nach dem Tod: Meine Mutter ist tot, ich suche sie jeden Tag
Seelenrettung Seit ihre Mutter gestorben ist, sucht unsere Autorin Elsa Koester einen Ort für ihre Tote. Gar nicht so leicht ohne den Glauben an den Himmel – statt eines Pfarrers kann der kleine Prinz helfen
Als meine Mutter starb, wurde alles leer. Es war ein Freitagabend, und wir fuhren mit der U8 zum Hospiz. Die U8 heißt in Berlin „Party-Bahn“. Um uns herum Lachende, Feiernde, Betrunkene. Auf der Rolltreppe wurden wir zur Seite geschubst: „Ey, rechts stehen!“ Wir antworteten nicht. Wir wussten nicht mehr, wo links war und wo rechts.
Als wir ihren Körper sahen, war er eine leere Hülle. Der kleine Prinz hatte uns gewarnt: „Mein Körper wird hier bleiben wie eine alte verlassene Hülle. Man muss nicht traurig sein wegen solch alter Hüllen …“ Ich war nicht traurig wegen der alten Hülle. Ich war entsetzt über die Mutterseelenlosigkeit der Welt. Alles war verlassen. Die Häuser waren verlassen. Die Straße war
starb, wurde alles leer. Es war ein Freitagabend, und wir fuhren mit der U8 zum Hospiz. Die U8 heißt in Berlin „Party-Bahn“. Um uns herum Lachende, Feiernde, Betrunkene. Auf der Rolltreppe wurden wir zur Seite geschubst: „Ey, rechts stehen!“ Wir antworteten nicht. Wir wussten nicht mehr, wo links war und wo rechts.Als wir ihren Körper sahen, war er eine leere Hülle. Der kleine Prinz hatte uns gewarnt: „Mein Körper wird hier bleiben wie eine alte verlassene Hülle. Man muss nicht traurig sein wegen solch alter Hüllen …“ Ich war nicht traurig wegen der alten Hülle. Ich war entsetzt über die Mutterseelenlosigkeit der Welt. Alles war verlassen. Die Häuser waren verlassen. Die StraXX-replace-me-XXX223;e war verlassen. Zu Hause stellte ich fest, dass auch mein Zimmer verlassen war. Die Möbel waren verlassen. Stumm ließen sie mein Entsetzen an sich abprallen.Irgendwo musste sie doch sein? Irgendwo in diesem Universum? Ich suchte meine Mutter dort, wo man mir beigebracht hatte, die Toten zu suchen: in der Kirche. Und wirklich wusste der Pfarrer, wo meine Mutter war. Dankbar wollte ich seinen Hinweis annehmen, doch er gab ihn nicht mir. Er sprach mit meinem Bruder über die Beerdigung, und nur mit ihm. Er sah mich nicht einmal an. Ich spürte, dass ich ihm nicht glauben konnte. Dieser Mann konnte keine Ahnung davon haben, wo meine Mutter sich befand, wenn er ihre Tochter nicht einmal ansah.Warum wir Bräuche für die Trauer brauchenDraußen vor dem Pfarrhaus lag mein See. Hier war meine Mutter schon mit mir spazieren gegangen, nachdem sie mich geboren hatte. Der See war leer.Meine Freunde wussten nicht, was sie sagen sollten. Niemand gab ihnen ein Gebet, um etwas zu sagen. Sie standen so da, stumm. Es gab kein rechts und kein links, es gab keine Häuser und Straßen, es gab keine Worte. Das Universum war leer, es saugte an mir. Ich spürte, wie meine Freunde leer gesogen wurden, niemand füllte sie mit Weihrauch. Ich schickte sie weg.Da sagte mir jemand: Zünde eine Kerze an, um deiner Mutter den Weg hinüber zu leuchten. Ich zündete eine Kerze an, und wirklich, sie hielt meine Mutter. Ich traute mich, eine Sekunde nicht an sie zu denken. Und die Flamme war noch da. „Wenn du zu irgendeiner Zeit kommst“, sagt der Fuchs dem kleinen Prinzen, „werde ich nie wissen, wann mein Herz bei dir sein soll … Es muss Bräuche geben.“Dann kamen Menschen zu mir und brachten mir mehr von meiner Mutter. Sie kannten sie nicht, sie hatten sie nie getroffen. Mich kannten sie auch nicht. Mein Mitbewohner hatte sie alle eingeladen, er hatte groß gekocht und sie kamen, um zu essen und um mir ihr Beileid auszudrücken, einer nach dem anderen füllten sie mein Zimmer mit meiner Mutter, indem sie über sie sprachen. Meine Mutter war in dem Hühnereintopf, in ihren Gesten und in ihren Augen. Sie brachten ihr ein Zuhause mit aus Kamerun und aus Mali und wunderten sich, dass meine Freunde und Kollegen aus Deutschland meiner Mutter und mir keinen Hühnereintopf brachten.Wieso trägt niemand mehr schwarz?Mein Kollege aus Deutschland sagte: Melde dich, wenn du wieder einsatzfähig bist. Er fragte nicht nach meiner Mutter. Er wünschte ihr nicht, irgendwo anzukommen. Er war ein sehr ernsthafter Mensch.Die großen Leute waren tatsächlich sehr sonderbar. Niemand sprach über meine Mutter. Wenn ich über sie sprach, gingen die Blicke zu Boden. Ich musste diesen Umzug alleine tragen, diesen ganzen Umzug meiner Mutter aus ihrem Körper in die Dinge der Welt, in das Universum. Es half mir kein Pfarrer, keine Tradition, es gab keine Kisten und keinen Wagen. Diese Gesellschaft lässt die Toten fallen, sobald sie ihren Geist aushauchen.Wo finden wir die Toten?Im ersten Jahr nach dem Tod meiner Mutter fanden mich die Leute komisch. Ich war manchmal abwesend, ich war anders. Kaum jemand wusste von meiner Trauer. Wenn Menschen früher Schwarz trugen, konnte die Gesellschaft sehen, dass diese Menschen einen Toten mit sich trugen und daher angestrengt waren. Es gab christliche Rituale, die Totenwache, den Leichenzug, den Leichenschmaus. Nach sechs Wochen einen Gottesdienst, der an die Verstorbene erinnerte. Nach einem Jahr einen Gottesdienst, der nochmals an die Verstorbene erinnerte und das Trauerjahr beendete.Ohne die Toten halten wir panisch am Leben festRituale holten die Toten in die Gesellschaft. Sie behielten einen Platz, wenigstens für ein Jahr. Und danach waren sie im Himmel – oder in der Hölle –, wo sie auf uns warteten. Sie blieben also da, sie waren nicht weg. Sie beobachteten uns, und wir wussten, ob sie sich freuten oder ärgerten über das, was wir taten. Sie würden es uns ja ohnehin sagen, wenn wir sie wieder träfen. Früher wurden wir gesehen, von Gott und unseren Toten. Wer sieht uns jetzt? Vielleicht ist es uns deshalb so wichtig, wie die Lebenden uns sehen. Dass sie uns verstehen. Unsere Identität erkennen.Wenn die Toten weg sind, dann bleibt uns nur das Leben, bis wir verschwinden. Kein Wunder, dass wir uns so daran klammern, an unseren winzigen Raum in diesem Körper. Beim Yoga schließen wir die Augen und atmen in unsere hintersten Ecken hinein, um sie so weit wie möglich auszudehnen, unsere fleischige Zelle, in der wir nun unrettbar gefangen sind, weil es kein „darüber hinaus“ mehr gibt. Wir klammern uns an unsere Haut, wir cremen sie ein, wir kontrollieren alles, was hineinkommt, und wir kontrollieren alles, was hinausgeht. Wir sortieren das Essen nach Bio und gesund, wir testen unsere Ausscheidungen mit kleinen Stäbchen in der Nase. Wir leuchten uns aus, messen uns ab, wir versuchen, unsere Leben so zu verlängern, wie es nur irgend möglich ist, denn das ist alles, was wir haben: diese kleine Hülle unserer Haut, die irgendwann einfällt und nichts übrig lässt.Wenn wir es nicht schaffen, die Toten zu retten, verlieren wir uns. Die Toten bringen uns unsere Vergangenheit, sie bringen uns die Gewissheit, gesehen zu werden, wie wir sind. Und sie bringen uns unsere Zukunft, denn sie zeigen uns den Ort, an dem wir sein werden, wenn es unsere Hülle nicht mehr gibt. Ohne unsere Toten sind wir gefangen im Jetzt. Eine Haut in der Leere. Die zu einer Leere in der Haut wird.Der kleine Prinz: Der letzte Kämpfer für die unsichtbare WeltIm Radio höre ich, dass es immer weniger Todesanzeigen gibt. Ich höre es an Allerseelen, dem einzigen Tag, an dem wir noch über unsere Toten sprechen. Ich höre auch, dass der Text sich ändert. Es ist nicht mehr Gott, der Herr über Leben und Tod, der unsere Verstorbenen zu sich ruft. Es ist: der kleine Prinz. Der letzte Kämpfer dieser für das Auge unsichtbaren Welt, die man mit dem Herzen sieht. Der letzte Kämpfer für eine Liebe über unsere Hüllen hinaus.Der kleine Prinz reist zurück auf seinen Planeten, weil dort eine Rose steht, die nur vier Dornen hat, um sich zu schützen, und die er gießen muss. Er bereitet den Piloten auf den Abschied vor: „Ich werde aussehen, als sei ich tot, doch es wird nicht wahr sein ...“ Er versucht, ihm den Ort zu erklären, an dem er ihn finden wird, wenn er keine Hülle mehr hat. Er sagt: „Und wenn du dich getröstet hast (man tröstet sich immer), wirst du froh darüber sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst mit mir lachen. Und du wirst manchmal dein Fenster öffnen, einfach so, zum Vergnügen … Und deine Freunde werden sehr erstaunt sein zu sehen, wie du lachst, wenn du deine Blicke auf den Himmel richtest. Dann sagst du: ‚Ja, die Sterne bringen mich immer zum Lachen!‘ Und sie werden dich für verrückt halten. Dann werde ich dir einen schönen Scherz bereitet haben …“Und es stimmt: Wenn ich sage, dass meine Mutter jetzt in den Dingen wohnt, dann halten mich meine Freunde für verrückt. Meine Mutter wohnt nicht in den Sternen, sie wohnt im Mittelmeer. Es ist in Ordnung, zu sagen: „Das Mittelmeer erinnert mich an meine Mutter.“ Es ist verrückt, zu sagen: „Siehst du? Da ist meine Mutter. Sie kommt mit den Wellen, um mich zu umarmen.“Wir drohen sie zu verlieren, die Toten, und mit ihnen den Geist, der in den Dingen dieser Welt wohnt. Denn sie werden bewohnt, meine Möbel, die Häuser und die Straßen: Von allen Menschen, die sie gebaut haben, von allen Menschen, die sie einmal genutzt, bewohnt, durchschritten haben, und von allen Menschen, an die wir denken, während wir sie nutzen, bewohnen und durchschreiten. Unsere Toten begleiten uns in unserem unendlichen Fluss des Tuns.Kirchen, Synagogen, Moscheen: Räume für die Götter und GeisterIch aber muss oft zur Brechstange greifen, um meine Mutter in die Dinge einziehen zu lassen. Wenn ich sage: „Wir brauchen einen Platz für unsere Toten“, dann sehe ich in hochgezogene Augenbrauen und gerunzelte Stirnen. Wenn ich sage: „Meine Mutter findet das nicht gut“, dann verbessern mich die Menschen: „Du meinst, sie hätte das nicht gut gefunden.“ Wenn ich sage: „Heute hat meine Mutter Geburtstag“, dann verbessern sie: „hatte.“ Endet denn ein Geburtstag mit dem Tod? War es denn nicht der Anfang eines Wirkens, das noch immer nachwirkt?Wenn ich das Universum in seiner Gesamtheit spüren will, dann gehe ich manchmal in eine Kirche. In Kirchen gibt es viel Raum, hier passen viele Tote und viele Geister unter ein Dach. Auch eine Moschee hat eine hohe Kuppel. Oder eine Synagoge. Und ein Tempel. Wenn es keine Gotteshäuser mehr gibt, wo finden wir sie dann, unsere Toten, unsere Geister und Götter? Wo finden wir dann den Raum, um unser kleines Leben von oben zu sehen, um das Gestern aus dem Morgen zu betrachten und die Unendlichkeit des Seins zu spüren, in die wir durch unsere löchrige Haut hinausfließen?Wo sind die Bänke, die Kreuze, die Rosenkränze, die Gebete unserer Zeit? Wenigstens haben wir mit der Couch unseren Beichtstuhl gerettet. Aber darüber hinaus haben wir alles weggeworfen, das uns und unseren Toten zum Ruhen, zum Festhalten, zum Innehalten und zum Ablegen diente.Es ist so mühsam, eine Tote alleine mit sich herumzutragen.
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