Das Problem ist nicht Philosemitismus, sondern ein israelfeindlicher Antisemitismus

Nahost-Krieg Die Philosophin Susan Neiman schrieb im „Freitag“, „die deutsche Fixierung auf die Vergangenheit führe zu einer Leugnung der Realität der Gegenwart“. Eine Erwiderung von Ernst Piper
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Zwei Israelis trauern um die Toten des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023
Zwei Israelis trauern um die Toten des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023

Foto: Ariel Schalit/picture alliance/AP

Susan Neimans Beitrag, der Mitte Dezember im Freitag erschien, schließt mit den Worten:

„Während wir in Berlin über die deutsche Erinnerungskultur streiten, sterben zahllose Kinder in Gaza. Nach Angaben von Haaretz starben im letzten Monat zehn Kinder pro Stunde. Mein Hauptproblem mit der deutschen Erinnerungskultur: Derzeit führt die deutsche Fixierung auf die Vergangenheit zu einer Leugnung der Realität der Gegenwart. Wird es nicht langsam Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen?“

Dazu drei Anmerkungen:

Das Sterben in Gaza hat eine Vorgeschichte, die von Neiman nicht benannt wird. Sie schreibt lediglich an anderer Stelle, es habe „schwere Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten des Nahost-Konflikts“ gegeben. Ähnlich wie Masha Gessen weigert sie sich, den beispiellosen Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 zu benennen. Thierry Chervel bemerkt dazu: „Die Täter-Opfer-Umkehr funktioniert auch so, dass man die erste Hälfte der Geschichte verschweigt, herunterspielt oder bagatellisiert.“

Die Parole „Kindermörder Israel“

Neiman schreibt, dass Kinder in Gaza sterben. In Wirklichkeit sterben dort auch Frauen und Männer, nicht zuletzt viele Hamas-Kämpfer. Die Reduktion auf die Kinder schließt an die Parole „Kindermörder Israel“ an, die 2022 auf der von Neiman mitorganisierten Tagung „Hijacking Memory“ zu hören war und derzeit auf vielen antiisraelischen Demonstrationen gerufen wird. Dahinter steht oftmals der Vorwurf eines geplanten Genozids. 1948 lebten 80.000 Palästinenser im Gazastreifen, heute sind es etwa 2,2 Millionen. Diese Zahlen deuten nicht auf einen Genozid hin. Tatsächlich ist der Gazastreifen heute eine der am dichtesten besiedelten Gegenden der Welt, was auch damit zusammenhängt, dass kein arabischer Staat bereit ist, Palästinenser aufzunehmen.

Neiman zitiert die israelische Zeitung Haaretz, die sicherlich beste israelische Zeitung. Sie möchte damit suggerieren, dass man ausländische Zeitungen lesen muss, um sich über die Situation im Nahen Osten zu informieren. Das sagt sie auch an anderer Stelle in ihrem Text. Schuld daran soll die deutsche Erinnerungskultur sein. Diese These ist so lächerlich, dass man sich damit nicht beschäftigen muss. Alle großen deutschsprachigen Zeitungen berichten über die Opferzahlen, die das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza bekannt gibt.

Das israelische Militär versucht derzeit, die militärische Struktur der Hamas zu zerschlagen, was sehr schwierig ist. Dabei gibt es leider auch viele zivile Opfer, was schrecklich ist, aber im Einklang mit dem Kriegsvölkerrecht steht, solange der Angreifer sich glaubhaft bemüht, Zivilisten soweit möglich zu schonen.

In normalen Kriegen schützt das Militär die Zivilbevölkerung, im Gazastreifen ist es umgekehrt. Die Hamas missbraucht die Bevölkerung als lebende Schutzschilde. Sie hat etwa 50 Meter unter der Erde ein gut ausgebautes Tunnelsystem von mehr als 400 Kilometern Länge angelegt. Dorthin können die Kämpfer sich zurückziehen. Es gibt eine sehr gute Infrastruktur, Lebensmittel, Krankenstationen, militärische Kommandoposten und Möglichkeiten, von dort den Abschuss von Raketen zu steuern. Die Eingänge zu dem Tunnelsystem befinden sich in Krankenhäusern, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden.

Gegen die deutsche Erinnerungskultur

Für Zivilisten gibt es im Gazastreifen leider überhaupt keinen Schutz. In die Tunnels dürfen sie nicht und oberirdische Schutzräume existieren nicht. Ägypten könnte den Menschen gestatten, wenigstens vorübergehend auf die Sinai-Halbinsel auszuweichen, aber der Grenzübergang bei Rafah ist für Palästinenser gesperrt.

Susan Neiman führt seit Jahren einen Kampf gegen die deutsche Erinnerungskultur. So schrieb sie in dem von ihr herausgegebenen Buch Historiker streiten (2022), die These von der Singularität des Holocaust, die im Mittelpunkt des Historikerstreits von 1986 stand, werde von manchen Autoren behandelt, „als ob sie ein Teil der Heiligen Schrift wäre“. rt an den von dem Historiker A. Dirk Moses erfundenen „Katechismus der Deutschen“ (2021), der angeblich „mit amerikanischen, britischen und israelischen Eliten“ ausgehandelt worden ist – eine typische antisemitische Verschwörungserzählung. Moses schreibt: „Es scheint, als ob wir zunehmend zu Zeugen von nicht weniger als öffentlichen Exorzismen werden, die unter der Aufsicht selbsternannter ‚Hohepriester‘ den ‚Katechismus der Deutschen‘ bewachen.“ Neimans These vom „philosemitischen McCarthyismus“, der angeblich in Deutschland herrscht, schließt nahtlos daran an.

Für Postkolonialisten wie Moses, den BDS-Aktivisten Achille Mbembe und Michael Rothberg, der den amerikanischen Juden „Besessenheit vom Holocaust und Loyalität zu Israel“ vorwirft, ist Antisemitismus ein Rassismus unter anderen Vorzeichen. Als tertium comparationis dient ihnen der Begriff Genozid. Die Ineinssetzung von Antisemitismus und Rassismus hat vor allem das Ziel, die Bedeutung des Holocaust zu relativieren. Tatsächlich ist der Rassismus eine Herrschaftsideologie, die die Menschheit aufgrund von äußeren Merkmalen in unterschiedliche „Rassen“ einteilt und dabei zugleich die Überlegenheit der eigenen „Rasse“ betont und so ihre Herrschaft über die anderen „Rassen“ rechtfertigt. Entstanden ist diese relativ junge Ideologie im Kontext des modernen Sklavenhandels. Ihr Ziel ist nicht Vernichtung, sondern Herrschaft und Ausbeutung.

Der Antisemitismus ist dagegen ein universelles Phänomen, dem ein manichäisches Weltbild zugrunde liegt. Sein Ziel ist die vollständige Vernichtung des Gegners, um das eigene, angeblich bedrohte Überleben zu sichern. Theodor Adorno und Max Horkheimer formulieren es so: „Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen.“ (Dialektik der Aufklärung, 1944)

Die Vernichtung der europäischen Juden ist präzedenzlos

Das nationalsozialistische Regime hat versucht, im Osten Europas Raum für deutsche Neusiedler zu gewinnen, was weitreichende Vertreibungen und Umsiedlungen „nicht eindeutschungsfähiger“ Balten, Polen, Ukrainer und Russen mit sich brachte. So wie die Ermordung von Psychiatriepatienten, Sinti und Roma, sowjetischen Kriegsgefangenen oder die Aushungerung Leningrads waren auch dies Massenverbrechen, aber sie waren anderer Art als die präzedenzlose Vernichtung der europäischen Juden.

Deutschland hat in Wirklichkeit kein Problem mit einem von oben verordneten Philosemitismus, sondern mit einer sich immer weiter ausbreitenden Aktionsbasis für Vertreter eines israelfeindlichen Antisemitismus. Das Jahr 2022 ist dafür ein gutes Beispiel. Die Konferenz „Hijacking Memory“ im Haus der Kulturen der Welt bot Sympathisanten der BDS-Bewegung ein breites Forum. Der israelische Historiker Nathan Sznaider schrieb in der Jüdischen Allgemeinen über die Konferenz: „Eine Schande für Berlin und die drei Institutionen, die sich dafür verkauft haben.“

Zur selben Zeit fand in Kassel die Documenta 15 statt, deren Leitung dem Künstlerkollektiv ruangrupa aus Indonesien übertragen worden war. Indonesien ist ein prominenter Vertreter des sogenannten globalen Südens, zudem ein muslimisch geprägtes Land, und es gibt traditionell nicht nur einen christlichen, sondern auch einen muslimischen Antisemitismus. Indonesien hat 275 Millionen Einwohner, unter ihnen sind Juden eine winzige Minderheit von allenfalls wenigen hundert Personen. Sie sind kein sichtbarer Teil der indonesischen Gesellschaft. Die antisemitischen Bilder, die in Kassel den Skandal verursacht haben, sind eher Ausdruck eines neuen Antiamerikanismus, ein Echo der Globalisierung. Auf diese motivische Überlagerung hat Dan Diner schon früher hingewiesen (Feindbild Amerika, 2002). Im Oktober 2023 gab es übrigens von Künstlern der Gruppe ruangrupa Likes für Statements der Hamas auf Instagram.

Die Existenz Israels war nie so bedroht wie heute

Susan Neiman hat gewiss keine Sympathien für die Hamas. Sie verachtet auch Israel nicht. Aber sie verwehrt den Bewohnern Israels jegliche Empathie. In dem eingangs angeführten Zitat werden sie nicht einmal erwähnt. Auch von dem präzedenzlosen Massaker, das die Hamas am 7. Oktober 2023 angerichtet hat, spricht Neiman nicht. Am 1. Dezember 2023 sagte sie in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau: „Neulich sagte mir ein Kollege, dass er, wenn nach einem Statement gefragt, zunächst die Schutzweste anziehe, indem er den Hamas-Terror scharf verurteile. Eine Schutzweste brauche ich nicht.“ Neiman beklagt den Tod von Kindern im Gazastreifen, will aber nicht von dem sprechen, was ihm vorausging.

Die Existenz Israels, wo über sieben Millionen Juden und zwei Millionen Araber leben, war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie so bedroht wie heute. Auch das ist eine Realität der Gegenwart, mit der man sich beschäftigen könnte. Englischsprachige wie deutsche Zeitungen berichten darüber.

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