Ist bei Erscheinen dieses Textes Sabine Schormann noch Documenta-Chefin? Und Claudia Roth Kulturstaatsministerin? Rücktrittsforderungen stehen im Raum – seitens einer breiten Allianz von Spiegel-Kommentaren über jüdische Organisationen bis hin zur AfD. Wird die Ausstellung, eine der weltweit wichtigsten für zeitgenössische Kunst überhaupt, gar dichtgemacht?
Nahebringen sollte uns das indonesische Kuratorenteam Ruangrupa die „Kunst des Südens“. Angetreten war es mit der Potlatch-Idee eines großen Schenkungs- und Verschwendungsfestes. Doch herausgekommen ist nicht nur ein „großes Durcheinander“, ein „Schafstallgeblöke der kulturellen Identitäten“, wie der Kulturtheoretiker Bazon Brock kritisierte. Sondern auch ein dreiaktiges Theaterstück über die Differenzen zwischen westlichem und südlichem Geschichtsbewusstsein, die Besonderheiten unserer Vergangenheitskultur – und das hierzulande prekäre Verhältnis zwischen Kunst und Staat.
Ein Mossad-Schweinesoldat? Ein Jude mit SS-Runen? Gewiss: Die Naivität, mit der das gleichfalls indonesische Kollektiv Taring Padi sein Werk People’s Justice verteidigte, zeigte spektakulär, wie wenig Kenntnis „antikoloniale“ Akteure bisweilen von der Geschichte des Antisemitismus und dessen deutsch-westlicher Kulmination im Holocaust haben. Es fehlt ihnen ein kritischer Begriff von der zentralen Bedeutung, die der Abwehr des Antisemitismus heute in westlichen Kulturen zukommt.
Und doch gehört hier auch etwas anderes zur Aufführung: Mit dem Mural verschwand die Erinnerung an den antikommunistischen Genozid von Helmut Kohls Männerfreund Haji Mohamed Suharto gleich wieder aus dem Stadtbild, eingedenk dessen der antikoloniale Rundumschlag anno 2002 entstanden war. Dieser Millionenmord aber ist nicht nur in Südostasien ein Trauma. Auch in Lateinamerika wusste man, was gemeint war, wenn Todesschwadronen „Djakarta“ an Häuser schrieben. Im Westen hingegen wird dieses Verbrechen kaum erinnert, obwohl es nicht nur von den USA und etwa der Bundesrepublik gefördert und gedeckt wurde, sondern – in geringerem Ausmaß – auch von Israel.
Deutsche „Judensauen“ bleiben
Der erste Akt dieses Theaters des Missverstehens bringt also ein beidseitiges Scheitern dessen auf die Bühne, was man jüngst „multidirektionales Erinnern“ nennt. Und der zweite lässt sich mit „quod licet lovi“ betiteln. Für den Plot sorgt hier nicht Ruangrupa, sondern die deutsche Gerichtsbarkeit. Keine zehn Tage „vor Kassel“ hatte die beschlossen, dass das als „Judensau“ bezeichnete Relief an der Stadtkirche Wittenberg nicht entfernt wird. Der christliche Antisemitismus hinter diesem Motiv hat nun wirklich eine furchtbare Blutspur. Welche Darstellung ist wirkmächtiger?
Deutsche „Judensauen“ bleiben, das indonesische Wandbild – durchaus schon anderswo gezeigt – muss weg: So illustriert das Kasseler Sommertheater die Wendung, welche die Kritik des Antisemitismus neuerdings nimmt: weg vom Holocaust, hin zum Nahostkonflikt – worin man zumindest eine Aktualitätsklitterung sehen kann. Und wodurch das jüngst erst wissenschaftlich diskutierte „Hijacking“ des Antisemitismusvorwurfs von weit rechts möglich wird, das wahlweise die Palästinenser, alle Muslime, den Globalen Süden oder gleich „die Postkolonialen“ unter Verdacht stellt.
Der dritte Akt ist derweil noch nicht über die Bühne. Er handelt nicht etwa von einer bürgerschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Wandbild, wie sie einst um Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod entbrannte. Sondern er spielt gleich auf höchster Ebene der Staatsraison: Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hielt noch vor der „Entdeckung“ der fraglichen Bilddetails eine aufgescheuchte Anti-BDS-Rede, Bundeskanzler Olaf Scholz bleibt demonstrativ fern – und während Schormann um ihr Amt noch kämpft, fordert die angezählte Claudia Roth mehr Staatseinfluss auf die Kunstschau. Sollte im dritten Akt der globale „Schafstall“ mit etatistischem Nachdruck ausgemistet werden, verwandelt sich die Tragödie in eine typisch deutsche Komödie.
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