Wolodymyr Selenskyj: Der Held des Krieges wird zum Hindernis für Frieden
Ukraine/USA Die ukrainische Sommeroffensive brachte keinen Durchbruch. Das Ergebnis ist ein Stellungskrieg, den Kiew kaum gewinnen kann. Verhandlungen erscheinen ein von der Biden-Regierung erwogener Ausweg, doch Präsident Selenskyj will mehr
„As long as it takes“? Erst trug der Westen ihm auf, bloß nicht die weiße Flagge zu hissen, jetzt erlahmt die Unterstützungsbereitschaft
Foto: Ukrainian President Press Office/UPI/Laif
Der Umgang mit Großmächten ist schwer. Sie werden jener Kategorie zugerechnet, weil sie es sich leisten können, gegenüber anderen Staaten die eigenen Interessen nötigenfalls mit dem Einsatz oder dem Entzug von Gewaltmitteln zu verfolgen. Großmächte haben Gegner sowie Verbündete und können die einen mithilfe der anderen in Schach halten. Sie bieten militärischen Schutz, verlangen dafür allerdings in der Regel politische Gefolgschaft. Man könnte auch von einem Vasallenverhältnis sprechen. Droht es Schaden zu nehmen, übt die Großmacht Druck aus, um Vasallentreue wiederherzustellen oder zu erzwingen. Eine solche Erfahrung macht gerade der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
700 Milliarden Euro kostet der Wied
et der WiederaufbauKnapp vier Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar 2022 war er bereit, auf eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu verzichten. Der Zehn-Punkte-Plan von Istanbul, ausgehandelt mit russischen Emissären, sah unter anderem die Neutralität der Ukraine, die weitgehende Bewahrung der territorialen Integrität und den Verzicht auf ausländische Militärbasen vor. Im Gegenzug sollten alle Besatzungstruppen abziehen und Kiew Sicherheitsgarantien von den Vereinigten Staaten erhalten. Die offenen territorialen Probleme – die Halbinsel Krim, Sewastopol, die Regionen im Donbass – wollte man später politisch lösen. Die US- und die britische Regierung überzeugten Selenskyj jedoch, sich nicht auf eine solche Übereinkunft einzulassen. Sie versprachen ihm umfassende Unterstützung bis zum Sieg, und zwar, so Präsident Joe Biden, mit der viel zitierten Formel: „as long as it takes“ (solange es notwendig ist).Nach einigen militärischen Erfolgen im Sommer 2022 stieg Selenskyj zum Helden der Ukraine und des Westens auf. Statt zu verhandeln, kämpfte er mit massivem externen Beistand. Sein Land erhielt militärische, wirtschaftliche und humanitäre Leistungen in einem Gesamtwert von über 200 Milliarden Euro. Gleichzeitig zahlte es einen sehr hohen Preis an getöteten oder verletzten Soldaten und Zivilisten sowie an zerstörter Infrastruktur. Die Wiederaufbaukosten werden jetzt schon auf mehr als 700 Milliarden Euro geschätzt. Ob das einmal reichen wird, ist noch nicht absehbar – der Krieg geht ja weiter. Fast alle Fachleute sind sich einig, dass die lange erwartete ukrainische „Sommeroffensive“ gescheitert und in einen langwierigen Abnutzungskrieg übergegangen ist. Nicht wenige befürchten, dass Kiew dabei die schlechteren Karten hat. Bei dieser Kriegsform gewinnt letztlich derjenige, der über größere menschliche und materielle Ressourcen verfügt. Die Ukraine hat etwa 100 Millionen weniger Einwohner als Russland und bereits heute viel weniger Soldaten und Reservisten. Sie ist nahezu vollständig von westlicher Militär- und Finanzhilfe abhängig. Der Verschleiß an Munition, Panzern und Geschützen ist dermaßen hoch, dass der Westen als Lieferant kaum nachkommt. Überdies schwindet angesichts des Krieges im Nahen Osten und verstärkter Verteilungskämpfe in den westlichen Gesellschaften die Unterstützungsbereitschaft.Die USA selbst befinden sich mittlerweile im Vorwahlkampf, dem sich Joe Biden nicht eben mit den besten Aussichten stellen muss. Die vielen Milliarden Dollar, die in die Ukraine fließen, rufen in der US-Gesellschaft ein zunehmend kritisches Echo hervor. Ein Ende des Krieges mit Biden als Friedensstifter wäre in dieser Stimmungslage nicht von Nachteil. Der Präsident könnte argumentieren, Russland sei gleichfalls durch immense Verluste geschwächt, die NATO durch die Erweiterung um Finnland und demnächst wohl Schweden im Aufwind. Außerdem rüste sie auf, ohne dass es dagegen nennenswerte Widerstände gäbe. Es sei jetzt eine primär europäische Aufgabe, die Ukraine zu halten. Das Raunen über informelle amerikanisch-russische Kontakte, bei denen eruiert wird, wie der Krieg beendet werden kann, passt da ins Bild.Doch erweist sich der Held zunehmend als ein Hindernis. Staatschef Selenskyj, der einst verhandeln wollte, aber nicht sollte, gibt sich siegessicher und will nicht mehr verhandeln. Er setzt auf Sieg dank westlicher Unterstützung und provoziert dadurch Kritik im In- und Ausland. So konstatierte kein Geringerer als sein Generalstabschef Valery Zaluzhny im britischen Magazin The Economist, dass man sich in einem Stellungskrieg befinde, der nicht gewonnen werden könne. Jeder Tag, den er andauere, verschaffe Russland einen Vorteil. Der absehbare Fall der Stadt Avdiivka im Donbass scheint das zu bestätigen.Arestovych könnte bei einer Wahl gegen Selenskyj antretenOleksij Arestowytsch, der ehemalige Präsidentenberater und heutige Selenskyj-Kritiker, will bei den nächsten Wahlen zum höchsten Staatsamt als Herausforderer antreten. Ihm wäre die „Kissinger-Lösung“ genehm: ein Friedensvertrag mit Moskau auf der Basis von territorialen Konzessionen gegen einen NATO-Beitritt der dann kleineren Ukraine. Regulär wären Präsidentschaftswahlen im März 2024 fällig, doch solange in der Ukraine das Kriegsrecht gilt, ist diese Option versperrt.Wie werden sich die USA positionieren? Vor einem Jahr sorgte US- Generalstabschef Mark Milley für Aufregung mit der Feststellung, jetzt sei ein guter Moment für die Ukraine, mit Russland in Verhandlungen über eine politische Lösung einzutreten. Sein Rat, Kiew zu Sondierungen mit Moskau zu drängen, wurde damals abgelehnt mit dem scheinheiligen Argument, die Ukraine entscheide allein darüber. Sein ukrainischer Kollege Valery Zaluzhny geht heute weiter, denn er sagt im Kern: Entweder wir erhalten viel mehr und wesentlich moderneres Equipment, um das Patt an den Fronten brechen zu können, oder wir verlieren den Krieg. Wenn beides keine akzeptablen Optionen für Washington sind, bleibt nur der Verhandlungsweg. Diesem steht gegenwärtig nicht nur Selenskyj im Weg, möglicherweise auch die russische Führung, falls sie die US-Präsidentenwahl im November 2024 in der Hoffnung auf eine bessere Verhandlungsposition abwarten will. Das auszuloten dürfte hinter den Kulissen das Bestreben der Biden-Unterhändler sein, die das Hindernis Selenskyj jedenfalls nicht als unüberwindbar einstufen dürften. Wie sagte doch einst Charles de Gaulle: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“
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