Frieden in der Ukraine? Diese drei Modelle werden als Nachkriegsordnung diskutiert
Waffenstillstand Zwischen der Ukraine und Russland dauert ein blutiger, teurer Stellungskrieg an. Weil in den USA der Wahlkampf naht, werden die Rufe nach Verhandlungen lauter und drei Friedensvarianten diskutiert: die Modelle Israel, Deutschland und Korea
Ein ukrainischer Soldat patrouilliert am 15. November 2023 vor einem zerstörten Gebäude im Oblast Donezk, nahe der von Russland derzeit angegriffenen Stadt Vuhledar und zwischen beiden Seiten tobenden Panzergefechten.
Foto: Ozge Elif Kizil/Anadolu/Picture Alliance
Mit dem Ende der ukrainischen „Sommeroffensive“ und mit der weitgehenden Pattsituation auf dem Schlachtfeld sind die Rufe nach Friedensverhandlungen, um die Kämpfe und das Blutbad möglichst schnell zu beenden, wieder lauter geworden. Während die europäische Öffentlichkeit und Medien mit diesem Thema noch sichtlich hadern, ist vor allem in der US-Presse eine intensive Diskussion über mögliche Verhandlungs- und Nachkriegsszenarien in Gange.
s zum einen durch eine wachsende „Ukraine-Müdigkeit“ in der US-Bevölkerung und der politischen Elite. Zum anderen rücken die US-Präsidentschaftswahlen 2024 näher, sodass sich das US-Interesse weg von den Belangen Europas und der Ukraine im Zeichen des kommenden Wahlkampfs hin zum Inland verschiebt. Verschiedene politische Akteure sowie die US-Presse diskutieren nun Verhandlungsszenarien und erste Umrisse einer möglichen Nachkriegsordnung für die Ukraine.Die Variationen der Szenarien sind vielfältig, lassen sich aber grob in drei Hauptmodelle unterteilen: das Israel-Modell, das Deutschland-Modell und das Korea-Modell. Alle Szenarien haben ihre Schwächen und ungelöste Fragen, skizzieren aber die wichtigsten Richtungen der Debatte.Das Israel-ModellAls ein gängiges Szenario für die Nachkriegs-Ukraine gilt das Israel-Modell. Sollte keine der Seiten einen militärischen Komplettsieg einfahren können, wonach es derzeit aussieht, werden Verhandlungen unumgänglich. Zum gemeinsamen Nenner könnte dabei eine formelle Neutralität und ein blockfreier Status der Ukraine werden. Kiew würde de jure auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichten, de facto allerdings zum wichtigsten US-amerikanischen Verbündeten in Osteuropa aufsteigen und damit die gleiche Rolle übernehmen, wie sie Israel für Washington in Nahost spielt.Das Szenario wäre ein Win-Win-Modell für Kiew wie für Washington, und würde in Moskau trotz eines inszenierten Kompromisserfolgs dem Kreml wohl Kopfzerbrechen bereiten. Kiew erhielte eine bedingungslose Sicherheitsgarantie für die Zukunft, Washington einen treuen Brückenkopf in Osteuropa direkt an der Grenze zu Russland. Moskau müsste mit einem hochgerüsteten Nachbarn an seiner Westflanke leben.In der US-Presse wurde die Ukraine in einem solchen Szenario mit einem „unverdaulichen Igel für Russland“ verglichen, der mit neuesten Waffensystemen derart hochgerüstet wäre, dass er russischen Einfluss in Europa auch ohne eine NATO-Mitgliedschaft eindämmen würde. Eine berechtigte Frage, die sich bei diesem Szenario aufdrängt, ist allerdings: Wie weit kann die Aufrüstung des „Igels“ gehen? Israel genießt nicht nur bedingungslosen US-amerikanischen Schutz, sondern verfügt auch über Atomwaffen. Sollte die Ukraine – als eine Art Israel 2.0 in Osteuropa – wieder auf ein mit dem Budapester Memorandum von 1994 abgetretenes Atomwaffenarsenal zurückgreifen dürfen?Das Deutschland-ModellEin anderes Szenario, das unter anderem die New York Times als „Deutschland-Modell“ in Spiel gebracht hat, sieht vor, dass die Ukraine auf einen Teil ihrer östlichen Territorien verzichtet, danach aber eine schnelle und vollwertige NATO-Mitgliedschaft und somit bedingungslose militärische Sicherheit bekommt. Eigentlich sind Beitritte zur NATO von Ländern mit ungelösten territorialen Streitigkeiten unmöglich, allerdings wird in der US-Presse nun schon seit Monaten ein Modell skizziert, demnach dies für Kiew machbar wäre.Als historischer Präzedenzfall dient hierbei Nachkriegsdeutschland. Wenn Westdeutschland der NATO beitreten konnte, während Ostdeutschland unter russischer Kontrolle stand, warum soll dann nicht die „Westukraine“ zur NATO beitreten, während der östliche Streifen zunächst unter russischer Kontrolle bleibt? – so Stimmen in der US-Presse. Das Modell sieht also vor, dass ein Waffenstillstand ausgehandelt, die Frontlinie eingefroren und de jure festgehalten wird und die Ukraine anschließend ohne seine östlichen Gebiete zügig zu einem vollwertigen NATO- und möglicherweise auch EU-Mitglied aufsteigt.Die ukrainische wie die russische Regierung könnten sich zu Hause als Sieger des Konflikts darstellen, was die Chancen für einen Verhandlungserfolg erhöht – die Ukraine hätte ihre Unabhängigkeit verteidigt sowie die NATO- und die EU-Vollmitgliedschaften „erkämpft“. Der Kreml würde sich als Sieger inszenieren, weil er neue Territorien einnehmen konnte, darunter die wichtigen Regionen Krim und Donbass.Das Deutschland-Modell würde im historischen Vergleich wohlgemerkt auch implizieren, dass die Westukraine schnell eine positive Ausstrahlungskraft auf den „Ostsektor“ haben soll und irgendwann womöglich eine friedliche ukrainische Wiedervereinigung nach dem deutschen Modell in Aussicht stünde.Das Korea-ModellDas pessimistischere Szenario ist das Korea-Modell. Es sieht vor, dass die Ukraine ohne Aussicht auf eine schnelle NATO-Mitgliedschaft auf ihre östlichen Territorien verzichten muss. Das Szenario wurde unter anderem von US-Admiral a.D. James Stavridis ins Gespräch gebracht – er sieht ein Ende des Ukrainekrieges nach dem Szenario des Koreakrieges kommen. Die Korea-Überlegung geht davon aus, dass Kiew nicht in der Lage sein wird, militärisch zu gewinnen. Stattdessen müsse Kiew harte, aber realistische Entscheidungen treffen, darunter vor allem auf einige Gebiete verzichten, um zügig ein Ende der Kampfhandlungen zu erreichen und mit dem Wiederaufbau zu beginnen.Dieses Szenario impliziert, dass die Ukraine als Staatsstruktur langsam an ihre absolute Belastungsgrenze kommt und ein irreversibler Schaden droht, falls die Kämpfe langfristig als Stellungs- und Auszehrungskrieg andauern. Verfechter dieses Modells argumentieren, dass der Krieg auf ukrainischem Gebiet tobt und somit tagtäglich der Grad der Zerstörung des Landes zunimmt, während die Staatseinnahmen ebenso wie die demografische Struktur einbrechen – nicht nur durch Tote, sondern auch durch Abwanderung aus der Ukraine.Es sei also im innigen Interesse der Ukraine, zu einem möglichst schnellen Ende des Krieges zu kommen, sei es auch im Zeichen eines Verlusts von Territorien. Gemäß dem Korea-Modell bräuchte es hierbei keinen formellen Friedensvertrag und keine offizielle Anerkennung der neuen Grenzen. Ein permanenter Waffenstillstand, bei dem gewisse Spielregeln gelten, würde reichen, um den Konflikt dauerhaft einzufrieren. Die aktuelle Frontlinie könnte eingefroren und zu einer permanenten Trennlinie werden; denkbar ist auch eine andere, imaginäre Linie, – auf der koreanischen Halbinsel diente hierfür der 38. Breitengrad. Entlang dieser Linie würde eine militarisierte Zone mit permanentem Armeeaufgebot beider Seiten und möglicherweise auch internationalen Friedenstruppen entstehen. Wie das Beispiel Korea zeigt, können solche Zustände über Jahrzehnte andauern, ohne dass der Konflikt wieder heiß aufflammen muss.Die Reaktionen in Russland und in der UkraineDie Reaktionen auf die Verhandlungsszenarien fielen wohlgemerkt sowohl in der Ukraine als auch in Russland weitgehend negativ aus. Der Großteil der ukrainischen Bevölkerung und die ukrainische Regierung halten weiterhin am Narrativ vom Sieg und an der Idee einer vollständigen militärischen Eroberung aller Territorien inklusive der Krim fest.In Russland wird befürchtet, dass ein Einfrieren des Konflikts über Jahrzehnte hinweg eine Krisenregion am russischen „Unterleib“ schaffen würde, die militärische, finanzielle und menschliche Ressourcen aufsaugt. Gegenwärtig tendieren die Kriegsdebatten beider Länder zu einer Fortsetzung der Kampfhandlungen. Ob diese Einstellung auch über den Winter hinweg anhält, bleibt aber abzuwarten. Möglicherweise wird die Öffentlichkeit beider Länder bereits im Frühling 2024 „reif“ für Friedensgespräche sein, sodass diese im Sommer 2024 starten könnten.
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