„Patt“? Der Ukraine-Krieg ist kein Schachspiel

Kolumne Mit dem Schachspiel kennt sich Karsten Krampitz aus. Deshalb regt ihn das Reden von einem „Patt“ im Ukraine-Krieg auch so sehr auf. Warum das so ist, erklärt er hier
Ausgabe 47/2023
Dolyna, Ukraine: Krater im Boden zeugen von der schwere der Angriffe des vergangenen Sommers
Dolyna, Ukraine: Krater im Boden zeugen von der schwere der Angriffe des vergangenen Sommers

Foto: Tkachov/AFP

Sucht und Ordnung

Karsten Krampitz ist Schriftsteller und Historiker aus Berlin. Er hat soeben das Buch Pogrom im Scheunenviertel im Verbrecher Verlag veröffentlicht

In meiner Randberliner Kindheit habe ich viel Schach gespielt, in der ersten Stadtklasse am achten Brett der TSG Fredersdorf. Bis auf wenige Ausnahmen bin ich gegen die Erwachsenen immer als Verlierer vom Brett weggegangen. In diesen Jahren jedenfalls habe ich gelernt, was ein Patt ist, von dem jetzt immer wieder geredet wird …

Der Ukraine drohe ein langwieriger Stellungskrieg, so viele Medien derzeit immer wieder, „ein gefährliches Patt für die Ukraine“. Geht’s noch?

Wer auch nur ein wenig Ahnung vom Schach hat – oder noch besser: vom Krieg –, dem muss derlei Wortwahl bitter aufstoßen. Krieg und Schach sind diametral verschiedene Dinge. Der Schachsport bringt auf der ganzen Welt Menschen zusammen, bereitet ihnen Freude. Nach der Partie reichen sich die Spieler die Hand, die Figuren werden wieder aufgebaut, und alles ist okay. Vielleicht trinken die „Gegner“ noch ein Bier miteinander.

Schach ist fair

Schach ist nicht Krieg, kein Abschlachten Unschuldiger wie in Butscha. Beim Schach haben beide Seiten die gleichen Voraussetzungen. Schach ist fair. Es gibt Regeln, die nicht gebrochen werden. Ein Turm darf sich nur waagerecht oder senkrecht bewegen, ein Läufer diagonal und so weiter.

Und anders als Krieg ist Schach eine hohe Kunst! Ein Damengambit in seinen vielen Facetten muss man erst mal spielen können. Ein gelungenes Läufer-Fianchetto oder auch die Drachenvariante der Sizilianischen Verteidigung haben etwas ungemein Ästhetisches, vom Krieg kann man das nicht sagen.

Kein Frieden ohne Freiheit

Die Metapher vom Schach stimmt vorne und hinten nicht. Zwar wird unter einem Patt eine Figurenkonstellation verstanden, bei der eine Seite keinen Zug mehr setzen kann, ohne dass der eigene König angegriffen wird. Und weil eine solche Stellung eben kein Matt ist, wird die Partie als Remis gewertet. Aber allein schon das – ein Unentschieden! – ist in diesem Krieg unvorstellbar. Dass es einen Frieden ohne Freiheit geben könnte, ist eine Illusion.

Der Konflikt wäre nur eingefroren; die Ukraine bekäme Sicherheitsgarantien von der NATO, und bei Wladimir Putins nächstem Angriff wäre Deutschland Kriegspartei. Der Denkfehler nicht weniger Journalisten ist aber noch ein anderer: Im Schach ist ein Patt in den allermeisten Fällen die Folge einer Rettungsstrategie. Ein Trick des Schwächeren, dem die Niederlage droht, weil er bereits zu viele seiner Figuren verloren hat.

Für die Ukraine aber bedeutet das angebliche „Patt“ keine Rettung. Sie hat den Aggressor nicht „ausgetrickst“. Wer beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine heute von einem „Patt“ spricht, meint in Wahrheit die Niederlage derjenigen, die ihr Heim und das Leben ihrer Angehörigen und Freunde verteidigen. Putin wird für seine Verbrechen auch noch mit Landgewinn belohnt; Millionen Flüchtlinge können nicht mehr heimkehren. Jene Ukrainer, die noch in den von Russland okkupierten Gebieten leben, werden sich mit der Besetzung abfinden müssen. Und womöglich auch, wie in Butscha, mit Mordbanden in russischer Armeeuniform, mit der Deportation von Kindern, der Zwangsrekrutierung von Ehemännern und Söhnen, der Verweigerung von Rentenzahlungen bei fehlender Kollaboration und auch mit den Folterkellern, mit der Lagerhaft für Menschenrechtsaktivisten, mit Plünderung und Vergewaltigung (bei gleichzeitigem Abtreibungsverbot). Bei einem „Patt“ im Ukraine-Krieg werden sich die Gegner nicht die Hand reichen, schon weil es keine Gegner sind, sondern Feinde. Und da wird auch nichts wiederaufgebaut, jedenfalls nicht von russischer Seite.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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