Die EU möchte ein „geopolitischer Player“ werden. Sie möchte Weltpolitik machen und nicht länger als „Softpower“ am Katzentisch der Großmächte sitzen. In ihrer Antrittsrede als EU-Kommissionspräsidentin versprach Ursula von der Leyen 2019 eine „geopolitisch“ handelnde Kommission, und der designierte Außenbeauftragte Josep Borrell ergänzte, die EU müsse „lernen, die Sprache der Macht zu sprechen“.
Josep Borrell forderte „mehr Hardpower“
Nach Russlands Überfall auf die Ukraine setzte Borrell noch eins drauf. Er forderte ein „geopolitisches Erwachen der EU“ und fügte martialisch an: „Wir brauchen mehr Hardpower. Die Zurückweisung der Machtpolitik, aus der die
politisches Erwachen der EU“ und fügte martialisch an: „Wir brauchen mehr Hardpower. Die Zurückweisung der Machtpolitik, aus der die EU entstand, muss ein Ende haben. Wir müssen über Instrumente des Zwangs, der Vergeltung und des Gegenangriffs … nachdenken.“ Europas „Außenminister“ suchte ganz offen den imperialen Wettstreit: die EU gegen den „russischen Imperialismus“!Seither spielt die Ökonomie als Kriterium für EU-Erweiterungen nur noch eine untergeordnete Rolle. Denn rein ökonomisch betrachtet gliche eine schnelle Osterweiterung durch die Ukraine, Moldawien, Georgien und die sechs Westbalkanstaaten einem Sprengsatz am Fundament der EU. Der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat erst kürzlich vor einer überstürzten Aufnahmepolitik gewarnt. Denn die Wirtschaftskraft des größten Beitrittskandidaten Ukraine erreicht derzeit nicht einmal ein Drittel des EU-Durchschnitts.Der EU-HaushaltWichtigster Wirtschaftszweig der Ukraine ist die Landwirtschaft. Die aber wird von milliardenschweren Holdings wie Kernel oder Harv-East dominiert, deren Firmen häufig in Steueroasen sitzen und von Oligarchen kontrolliert werden. Die Agrarsubventionen der EU, die rund 35 Prozent des EU-Haushalts verschlingen, würden dann an ukrainische Oligarchen fließen, nicht mehr nach Polen, Rumänien, Ungarn oder Griechenland.Das müsste von irgendwem ausgeglichen werden, aber bereits heute zahlt Deutschland 20 Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt ein, als es herausbekommt, während Polen zwölf Milliarden mehr erhält, als es einzahlt. Osteuropa müsste also auf die Milliarden aus Brüssel verzichten oder die wenigen Geberländer müssten noch mehr einzahlen. Die Unwucht innerhalb Europas würde zunehmen. Der Unmut darüber auch.Wieso empfiehlt die EU-Kommission dennoch die rasche Aufnahme einer ganzen Reihe von instabilen Staaten, selbst solchen, die sich im Krieg befinden? Was hat sie davon?Kosovo, Afghanistan, Irak, LibyenZunächst einen Zugewinn an Prestige. Das weltpolitische Gewicht der EU würde zulegen. So lange jedenfalls, wie die nationalen Bürgerproteste gegen die wachsenden Lasten im Zaum gehalten werden können. Außerdem könnte sich die EU durch die Übernahme von „mehr Verantwortung“ von den USA emanzipieren und China, Russland und dem Globalen Süden gegenüber eigenständiger agieren.Es könnte aber auch sein, dass die geopolitische „Von-der-Leyen-Kommission“ mit ihrer beschleunigten EU-Erweiterung der US-Politik nur diensteifrig den Rücken freihält. Für beide Entwicklungen gibt es Anzeichen. Die USA wälzen die Folgelasten von Interventionen – Kosovo, Afghanistan, Irak, Libyen – gern auf Verbündete ab. Die Versorgung der Flüchtlinge und die Hilfen zum Wiederaufbau mögen andere bezahlen. Die einzige Weltmacht scheut sich auch nicht, selbstbewusst Prioritäten zu setzen, indem sie lästig gewordene Konflikte eiskalt abgibt. Auch dafür gibt es im Fall der Ukraine erste Anzeichen.So berichtete jüngst der Sender NBC, dass US-Beamte in noch unverbindlichen Geheimgesprächen mit Kiew und Moskau vorfühlen, wie ein Ende des Krieges aussehen könnte. Denn ein Dauer-Patt wollen die USA nicht finanzieren. Seit April finden deshalb informelle Gespräche mit russischen Vertretern statt, seit Oktober auch Gespräche mit ukrainischen. Es geht in dieser „Backchannel-Diplomatie“ der USA vor allem darum, herauszufinden, was beiden Seiten zugemutet werden kann und welche sicherheitspolitischen Angebote sie verhandlungsbereiter machen. Hier könnte die EU eine Rolle spielen. Etwa mit dem Angebot, die Ukraine im Rekordtempo in die EU aufzunehmen, wenn sie die NATO-Mitgliedschaft dafür aufgibt.EU-Vertrag, NATO-Vertrag und BeistandsklauselnDas würde den USA enorme Kosten ersparen und ihr die volle Konzentration auf den Indo-Pazifik und den Nahen Osten ermöglichen. Die Ukraine ihrerseits wäre mit einem schnellen Beitritt zur EU wirtschaftlich und sicherheitspolitisch versorgt, denn das Budget der EU würde gewaltige Summen in die Ukraine transferieren, und Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags bietet Mitgliedsstaaten, die angegriffen werden, einen ähnlichen Schutz wie die Beistandsklausel von Artikel 5 im NATO-Vertrag. Das heißt, die EU würde sämtliche Kosten und die sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen. Sie wäre ein wohlwollender Hegemon unter kriegstüchtiger deutscher Führung und könnte weltpolitisch endlich „Flagge zeigen“.Es kann allerdings auch sein, dass aus dem wirtschaftlichen Riesen EU, der einst ein glücklicher politischer Zwerg war, nur ein aufgeblasener Polit-Riese wird, der sich auf bestem Weg in den selbst verschuldeten Niedergang befindet.