Bernie Sanders im Interview über seine Joe-Biden-Unterstützung: „Ich lebe in zwei Welten“
Im Gespräch Bernie Sanders ist in einer Zwickmühle: Er unterstützt Joe Biden in der Präsidentschaftswahl 2024, aber seinen Sozialismus will er nicht an den Nagel hängen. Ist das schizophren? Wir haben den Senator bei seinem Berlinbesuch befragt
Bernie Sanders war für drei Tage in Deutschland. Beim Empfang nach der Premiere seines neuen Buches diskutiert er über europäische Politik. Er will zehn Minuten bleiben, am Ende bleibt er eine Stunde. Einen Tag später trifft er Gregor Gysi in der Zentrale der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Berliner Regent Hotel gibt er das folgende Interview, dem auch seine Ehefrau, Jane Sanders, lauscht.
der Freitag: Senator Sanders, was hat Sie in jungen Jahren am Sozialismus inspiriert?
Bernie Sanders: Ehrlich gesagt: In den Uni-Seminaren war ich nicht besonders gut. Ich habe mich dann im Keller einer tollen Bibliothek vergraben und dort viel gelesen. Während ich an der University of Chicago war, habe ich mich in der Bürgerrechtsbewegung engagiert, und auch ein wenig in der Arbe
rlich gesagt: In den Uni-Seminaren war ich nicht besonders gut. Ich habe mich dann im Keller einer tollen Bibliothek vergraben und dort viel gelesen. Während ich an der University of Chicago war, habe ich mich in der Bürgerrechtsbewegung engagiert, und auch ein wenig in der Arbeiterbewegung. Ich würde sagen, das hat dazu beigetragen, meine politischen Ansichten zu formen.Viele Politiker haben sich von der Arbeiterbewegung ab- und neuen sozialen Bewegungen aus den Mittelklassen zugewandt. Warum bleibt die Gewerkschaftsbewegung wichtig?Nun, es gibt zwei Realitäten. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Meine Frau kommt aus einer Arbeiterfamilie. Als Kind habe ich in meinem eigenen Leben und im Leben meiner Familie die Auswirkungen und den Stress gesehen, den Geldmangel mit sich bringt. Ich könnte Ihnen jetzt eine dreistündige Rede darüber halten, wie so was das Leben von Menschen prägt, wenn man jeden Tag um das Nötigste kämpfen muss. Und dabei muss das gar nicht sein. Es muss wirklich nicht sein! Wir können eine Gesellschaft schaffen, in der alle Menschen einen angemessenen Lebensstandard haben. Das ist nicht utopisch, sondern absolut machbar und praktisch umsetzbar.Über welche Macht verfügt die Arbeiterklasse heute noch?Transformationsmacht, allein durch ihre schiere Größe. Mit ihnen können wir Amerika verändern – und die ganze Welt. Die meisten Menschen gehören ja nicht zur oberen Mittelklasse. Die meisten Menschen gehören zur arbeitenden Mittelklasse, zur Arbeiterklasse mit all ihren Problemen und Nöten im Alltag. Wenn wir diese Menschen zusammenbringen können, dann liegt dort die politische Macht.Zurzeit gelingt es weltweit eher den Rechten, von Arbeitern gewählt zu werden. Wieso?Viele Arbeiter denken sich: Ich habe jetzt so lange gearbeitet, um einen anständigen Lebensstandard zu erreichen! Aber die Arbeitsplätze, die viele von uns heute haben, werden in zehn, 20 Jahren nicht mehr existieren. Das verursacht massive Ängste: Welche Art von Arbeit wird es noch geben? Was wird aus mir? Werde ich meine Familie ernähren können? Oder wird ein Roboter, wird künstliche Intelligenz meine Arbeit ersetzen?In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass der Erfolg der extremen Rechten daraus resultiert, dass sie die Wut und Entfremdung der Arbeiterklasse anspricht, sie dann aber gegen Minderheiten und Einwanderer lenkt.Wenn die Verhältnisse wirtschaftlich desintegrieren, wenn die Angst zunimmt, werden die Menschen nervös und sie wollen Lösungen. Die Rechten bieten Lösungen. Diese sind aber: falsch, hässlich, grausam und unehrlich. Die Rechten machen die Migranten für alle Probleme verantwortlich, die Homosexuellen, die Schwarzen, jede Minderheit. Das haben Demagogen immer schon so gemacht, auch gegen Juden. Die Linke muss die Menschen aufklären und organisieren: Warum habt ihr ökonomisch so zu kämpfen? Warum zahlen die Reichen nicht ihren gerechten Anteil an Steuern? Ein positives Beispiel sind die Streiks der United Automobile Workers in den Vereinigten Staaten.Inwiefern?Die Gewerkschaftsführung dort sagt den Arbeitern in der Automobilindustrie: In unserem Kampf müssen wir es mit der Gier der Konzerne aufnehmen.Während Ihrer Buchvorstellung in Berlin sagten Sie, wir müssten den Kapitalismus zähmen und ihn zugleich durch eine demokratisch-sozialistische Alternative ersetzen. Wie sähe diese aus?Ich habe keine fertigen Antworten in der Tasche. Zunächst einmal müssen wir die massive Einkommens- und Vermögensungleichheit beenden. Das ist ein Thema, über das in Amerika nicht gesprochen wird – und ich bezweifle, dass die Situation in Europa gänzlich anders ist. Das ist schon ziemlich erstaunlich für mich.Warum?Seit Covid hat der gesamte Globus 42 Billionen US-Dollar neuen Reichtum geschaffen. Zwei Drittel davon, 26 Billionen Dollar, sind an das oberste eine Prozent gegangen. In Amerika besitzen drei Menschen so viel Vermögen wie die untere Hälfte der amerikanischen Gesellschaft zusammen. Das oberste eine Prozent hat es in der Geschichte der Welt noch nie so gut gehabt. Es ist an der Zeit, dieses System zu ändern.In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass künstliche Intelligenz ein Fluch sei, solange sie unter kapitalistischer Kontrolle steht.Man muss kein Marxist sein, um zu verstehen, dass die Menschen in der Geschichte immer zu kämpfen hatten: Immerhin müssen wir arbeiten, um Geld zu verdienen. Aber künstliche Intelligenz und Robotik können die menschliche Gesellschaft radikal verändern und enormen Wohlstand schaffen. Die Frage ist nur: Wer profitiert davon? Die Maschine kann dazu dienen, deine Wochenarbeitszeit zu verkürzen – für mehr freie Zeit, Zeit für Kultur, Zeit für die Familie, für alles Mögliche. Maschinen können das Leben verbessern. Etwas anderes ist es, wenn man dich wegen der Maschine einfach auf die Straße wirft oder dich zu deren Anhängsel macht. Die große Frage lautet also: Wie können wir sicherstellen, dass Technologie die Menschen befreit und nicht versklavt?Placeholder infobox-1Und, wie?Es ist der gleiche alte Kampf: der Kampf um die Macht in den Konzernen. Technologie ist etwas Gutes, wenn man sie kontrolliert, damit sie den Menschen dient. Das muss bei uns im Zentrum stehen.Welche Vorbereitungen hatten Sie 2020 für den Fall getroffen, dass Sie von den Demokraten tatsächlich nominiert werden zum Präsidentschaftskandidaten? Oder sogar gewinnen?Wir wussten, dass wir es mit dem Medien-Establishment, dem wirtschaftlichen Establishment und dem politischen Establishment aufnahmen. Als ich 2015 zum ersten Mal bei den Vorwahlen antrat, gab es noch den Mythos, dass das amerikanische Volk mit dem Status quo zufrieden sei. Und dann kamen wir und sagten: Sorry, das stimmt doch überhaupt gar nicht! Ganz sicher waren die jungen Leute nicht einverstanden. Auch viele Menschen aus der Arbeiterklasse wollten eine transformative Politik. 2020 waren wir besser darauf vorbereitet, es mit allen Pfeilern des Establishments aufzunehmen.Hatten Sie da mehr Erfolg?Wir haben die ersten drei Vorwahlen in Iowa, New Hampshire und Nevada gewonnen. In South Carolina haben wir verloren. Kurz vor dem Super Tuesday, dem Tag, an dem in vielen Staaten Vorwahlen stattfinden, hat das Establishment sehr deutlich gemacht, dass sie Kandidaten ausschließen und sich um Joe Biden scharen wollen. Das ist die Realität, mit der wir konfrontiert waren.Wie hätte denn Ihr Programm für die ersten 100 Tage als Präsident der Vereinigten Staaten ausgesehen?Die ersten 100 Tage wären entscheidend gewesen. Die Leute haben Worte ohne Taten satt. Das Programm wäre gewesen, sehr mutig zu handeln, um jedem US-Amerikaner eine Gesundheitsversorgung zu garantieren. Aus einer Reihe von Gründen denke ich, dass es einfacher gewesen wäre, uns dem kanadischen und nicht den europäischen Systemen anzunähern. Aber wir hätten Gesundheit als ein Recht garantiert und kostenlos gemacht. Wir hätten versucht, die Preise von Medikamenten in den USA zu halbieren. Wir hätten die Studiengebühren für alle öffentlichen Hochschulen und Universitäten abgeschafft. Wir hätten die Steuern auf die großen Konzerne und die Reichen substanziell erhöht. Wir hätten riesige Anstrengungen unternommen, um Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, um unser Wirtschaftssystem von fossilen auf regenerative Energien umzustellen. Wir hätten die Ausgaben für die öffentliche Versorgung mit Kitas und Kindergärten verdoppelt. Die USA sind durch viele, vieletief verankerte Systemkrisen gekennzeichnet: Auf diese hätten wir uns in den ersten 100 Tagen konzentriert. Sie kandidieren 2024 nicht noch einmal. Sie unterstützen Biden, um gemeinsam Trump zu schlagen. Sie haben auch darauf hingewiesen, welchen Fortschritt das Investitionsprogramm „Build Back Better“ für die Arbeiterklasse hätte haben können.Ja. „Build Back Better“ beinhaltete auch einiges davon, was ich selbst in meinen ersten 100 Tagen gemacht hätte.Gleichzeitig kritisieren Sie das Demokraten-Establishment dafür, dass es vor der Macht der Milliardärsklasse kapituliert und das Leiden der Arbeiter nicht sieht. Wie gehen Sie damit um: Auf der einen Seite das Herausstellen eines dritten Pols für den demokratischen Sozialismus, auf der anderen Seite die Zusammenarbeit mit den Demokraten?Mit großer innerer Unruhe und Schmerz. Es ist kein leichter Prozess. Aber das ist mein Job. Mein Job ist der eines Senators im US-Kongress. Mein Job ist es, das Beste für die Menschen in Vermont herauszuholen. Wir arbeiten heute an einer Reihe von wichtigen Fragen für Vermont. Gleichzeitig bin ich mir darüber bewusst, dass die dringend nötigen Veränderungen in Amerika nicht ohne eine mächtige Graswurzelbewegung entstehen werden. Aus diesem Grund widme ich einen Großteil meiner Zeit dem Aufbau dieser Bewegung. Und ich denke, wir sehen heute diese Bewegung im Wachstum der Gewerkschaftsbewegung. Aber ja, ich lebe in zwei Welten.Sie sind schon seit sechs Jahrzehnten demokratischer Sozialist. Mehr als vier Jahrzehnte Ihres politischen Lebens sind geprägt von der neoliberalen Konterrevolution gegen die Errungenschaften, die die Arbeiterklasse während des New Deal in den 1930ern erzielte. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die inflationsbereinigten Reallöhne der Arbeiter trotz gigantischer Produktivitätsfortschritte heute niedriger sind als vor 50 Jahren. Wie schaffen Sie es, sich nicht demotivieren zu lassen?Man tut, was man kann! Ich hatte in meinem Leben das große Glück, dass die Bevölkerung von Vermont es mir ermöglicht hat, nach Washington zu gehen und sie zu repräsentieren; dass sie es mir erlaubt hat, die Schlachten zu schlagen, die ich geschlagen habe. Das ist ein Privileg. Ich bin sehr stolz, dass ich diese Chance bekommen habe, und ich nehme die damit verbundene Verantwortung sehr ernst. Als Mitglied des US-Senats bin ich in einer Position, die viele andere Linke nicht haben. Das heißt, ich werde meine Macht und meine Bekanntheit bestmöglich einsetzen, um eine demokratische – mit einem kleinen d! –, eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in der wir alle zusammen dafür sorgen, dass alle Menschen ein gutes Leben haben, in der wir die Klimafrage lösen und in der wir eine echte, eine wirtschaftliche Demokratie haben.Sie hatten einfach nur Glück?Kurzum, ja. Für mich ist das kein Job. Es ist ein Privileg, in der Position zu sein, in der ich bin, und die Arbeit tun zu können, die ich tue – und dabei so viele großartige Menschen in Amerika und überall auf der Welt kennenzulernen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.