Bündnis Sahra Wagenknecht: Fünf Thesen zur Anti-Establishment-Partei
Linke Spaltung Wagenknechts Parteigründung ähnelt einer leninistischen Anlehnung an das Kampagnenmodell von Bernie Sanders: Fünf Thesen über die darin enthaltenen Widersprüche und Chancen
These 1: Jetzt müssen beide liefern. Für die Linkspartei ist es die letzte Chance
Immerhin herrscht jetzt Klarheit. Beide Formationen stehen ab sofort für sich. Sie können sich endlich auf ihre Funktion als Oppositionsparteien konzentrieren und aufhören, den Gegner in den eigenen Reihen zu suchen. Für die Linke ist es wohl die letzte Chance für eine Trendwende.
Die Politik der Herrschenden liefert dafür genügend Raum. Kaum zwei Jahre reg
zu suchen. Für die Linke ist es wohl die letzte Chance für eine Trendwende.Die Politik der Herrschenden liefert dafür genügend Raum. Kaum zwei Jahre regiert die Ampel als „Fortschrittskoalition“. Sie hat Klima und soziale Gerechtigkeit in einen verheerenden Gegensatz gebracht, verwöhnt Konzerne mit Milliarden-Subventionen und Steuergeschenken, während für die lohnarbeitende Bevölkerung ein harter Sparkurs gilt. Inzwischen lehnen zwei Drittel ihre Politik ab. Eine linke Opposition tut not. Bislang profitierte jedoch nur die extreme Rechte. Die AfD ist in Umfragen mit Abstand zweitstärkste Kraft im Bund und mit Abstand stärkste im Osten.These 2: Es wird zerrissen, was eigentlich zusammengehört. Die (Ab-) Spaltung lässt sich nicht in den Kategorien links/rechts begreifenDie Spaltung ist bedauerlich, weil historisch unnötig. Das dialektische Arbeiten durch komplexe, im Rahmen des Kapitalismus prinzipiell nicht zu lösende Fragestellungen – wie die Migrations- oder die Friedensfrage – wurden zugunsten von schroff-gegensätzlichen Positionen mit identitärem Charakter versteinert.Gerade diese beiden Fragen zeigen, dass man die Abspaltung nicht in den Kategorien links/rechts begreifen kann. Die pragmatische Anpassung des Parteivorstands an das Bestehende in der Friedensfrage – zu der Diskussionen über Sanktionen, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, eine Neubewertung der NATO oder der EU plus Armee gehören – ist so „realo“ wie die pragmatische Anpassung an das Bestehende im Hinblick auf die Migrationsfrage auf der Seite Wagenknechts. Ihre Anhänger erscheinen bei der Friedensfrage als „Fundis“, bei der Migrationsfrage gilt das für die „Bewegungslinken“. Und während Wagenknechts ökonomisches Profil mit ihrer Hinwendung zum Ordoliberalismus auf dem Papier zweifellos weniger sozialistisch ist als das der Linken, wird dieses einfache Bild erschwert durch deren Regierungspraxis von Thüringen bis Bremen. Auch stand Wagenknecht im Regieren-Opponieren-Konflikt stets auf dem linken Flügel, was zu erklären hilft, warum manche ihrer traditionalistischen Anhänger mit einer Tendenz zum Personenkult ihre ökonomische Wandlung ignorieren oder kleinreden.These 3: Die Spaltung ist eine linke Anti-Establishment-AbspaltungMan vergisst heute leicht, dass die Linke medial einmal die Pariapartei war, so wie derzeit – noch – die AfD. Damals wurde sie vom Establishment maximal gehasst, heute sehen sie viele als Teil davon. Angst hat vor ihr heute kaum noch jemand. Für Wagenknecht gilt das nicht. Das Establishment, mit dessen hegemonialen Positionen zu Wirtschaft, Corona und Ukrainekrieg sie über Kreuz liegt, fürchtet und bekämpft sie. Für Janine Wissler und Martin Schirdewan empfindet die Mehrzahl der Journalisten heute wohl eher Mitleid.Freilich ist keine andere (Ex-)Linke-Politikerin so etabliert wie Wagenknecht. Das ist allerdings nur bedingt ein Widerspruch. Ihre Marke ist: Die Unbeugsame, die den Herrschenden die Meinung geigt und Mumm hat, dagegen zu sein. Gerade im Osten kommt das an.Was die wenigsten begreifen, ist das Ausmaß der Anti-Establishmentstimmung, nicht zuletzt bei denjenigen, die schon lange nicht mehr wählen. Dies fiel den Liberalen in den USA schon 2016 mit der Trump-Wahl auf die Füße. Das deutsche Establishment scheint gewillt, denselben Fehler zu wiederholen. Entscheidend ist, wer in Krisen und politischer Zuspitzung als der Antipol zur herrschenden Politik wirkt. Die Linke erschien in den letzten Großkrisen (Flüchtlingskrise, Corona, Ukraine) oft als Anhängsel der Regierung. Die AfD konnte so als die einzige antisystemische Kraft erscheinen. Ihre der NSDAP entlehnte Altparteien-Rhetorik wirkt so auch gegen die Linke.These 4: Die Wagenknecht-Partei wird von inneren Widersprüchen gekennzeichnet seinViele Sozialisten unterstützen Wagenknecht nicht aus Überzeugung hinsichtlich ihrer bewusst vage gehaltenen Vierpunkte-Plattform: „wirtschaftliche Vernunft“, „soziale Gerechtigkeit“, „Frieden, Diplomatie und Entspannung“ sowie eine neue Kultur der „Meinungsfreiheit“. Sie tun es eher aus Frustration über Entwicklung und Zustand der Linken.Die Wagenknecht-Partei wird also widersprüchlich sein. Der größte Widerspruch ist der zwischen wirtschaftlicher Vernunft einerseits, die jenseits der schwarzen Null im Namen der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) auf große industriepolitische Investitionen für Zukunftstechnologien setzt, und andererseits sozialer Gerechtigkeit, die auch eine Orientierung auf Tarifbindung, eine deutliche Anhebung der Mindestlöhne, von denen man nicht leben könne, und Rentenerhöhungen vorsieht. Der Widerspruch besteht offensichtlich zwischen den Versprechen an die KMU einerseits und denen an die lohnarbeitenden Klassen andererseits. Dabei übersieht Wagenknecht, dass die zu besteuernden Milliardenvermögen der Superreichen nicht als Bargeld auf der Bank lagern, sondern in Produktivvermögen investiert sind, aus dem sich Ansprüche an leistungslose Einkommen aus fremder Lohnarbeit auf dem Wege von Dividenden-Ausschüttungen ergeben.Damit aber steht Wagenknecht letztlich vor der Eigentumsfrage, die sie noch vor Jahren recht radikal stellte. Sie könnte ihr Lob der „Leistungsgesellschaft“ durchaus in populärer antikapitalistischer Richtung kommunizieren, gegen die mehr als 600.000 Einzelpersonen in Deutschland, die nur von Aktien- und Immobilieneinkünften, also anderer Menschen harter Arbeit, leben. Sie könnte sagen, dass die FDP-Forderung nach „Leistung muss sich wieder lohnen“ nur im Sozialismus verwirklicht werden kann, während im Kapitalismus Erbschaft, Herkunft und sich daraus ergebende Beziehungen den Ausschlag geben. Sie möchte aber offensichtlich im Geist einer „antimonopolistischen-Demokratie“-Taktik ein großes Anti-Establishment-Bündnis von Arbeit und Kapital zimmern, das sich – wenigstens rhetorisch – gegen Großkonzerne, Banken und Versicherungen richtet. Dafür ist die Eigentumsfrage eher hinderlich.Um eine neue Partei zu etablieren, muss Wagenknecht die Politunternehmer, Sektierer und Hasardeure fernhalten. Ihre Partei wird dann keine Massen-, sondern eher eine quasileninistische Avantgardepartei. Der Autoritarismus, der ihr aus der Linken nicht zu Unrecht vorgeworfen wird, dürfte indes alternativlos sein. Anders als die Grünen und die gescheiterten Piraten identifiziert Wagenknecht keine Lücke im System in Gestalt einer neuen Frage, wie es Ökologie und Digitalisierung waren. Vielmehr will sie in Anti-Establishment-Zeiten ihre Popularität und Glaubwürdigkeit nutzen, um eine Alternative zur Anti-Establishmentpolitik der AfD zu etablieren. Dafür muss sie jedoch die Kontrolle behalten. Dass dies viele vor den Kopf stoßen wird, die leidenschaftlich Programmdebatten führen, liegt auf der Hand.Wagenknecht wird den Spagat meistern müssen, genügend Kader zu finden, die ihre herausgehobene Position nicht infrage stellen, und Leute zu aktivieren, die für ihr Projekt an der Basis arbeiten wollen, ohne großartig Einfluss auf seine Richtung nehmen zu können. Im Grunde ist dies – bis zur Spendensammlung für den Aufbau – der Versuch, personalisierte Wahlkämpfe nach US-Vorbild zu führen. Auch die Zehntausenden, die sich für Bernie Sanders einsetzten, konnten seine Ausrichtung nicht bestimmen. In den USA ist diese Art der Akklamation normal, in Deutschland ein Novum und Wagnis.Die wahrscheinliche Parteistruktur hat indes Folgen für die innere Dynamik: Die jetzt mit ihr gehenden Linken werden Kröten schlucken müssen, weil ihr Projekt von einer Person abhängig sein wird, zu der es programmatische Differenzen gibt. Zugleich könnten sie unter Umständen Einfluss auf ihre Programmatik nehmen, denn Wagenknecht wird die Loyalität ihrer engsten Mitstreiter unbedingt brauchen, um erfolgreich Wahlkämpfe bestreiten zu können, vor allem solche, in denen sie selbst nicht antritt. Voraussichtlich wird sie den rechten Flügel bilden. Mancher Sozialist mag also Wagenknecht fast wünschen, viele arbeiterbewegungsorientierte Linke mitzunehmen, die ihre Partei nicht nur friedenspolitisch „auf Kurs“, sondern auch Zugeständnisse an Liberalismus und Konservatismus im Zaum halten.These 5: Die Erfolgsaussichten einer Wagenknecht-Partei sind vorhanden: Sie könnte das Parteiensystem aufmischenEine Wagenknecht-Partei könnte Erfolg haben. Die Lücke im politischen System ist da. Wenn es ihr gelingt, die organisationspolitischen und ideologischen Widersprüche einigermaßen unter Kontrolle zu halten, dürfte sie Stimmen von AfD, CDU/CSU, SPD und vor allem aus dem Nichtwählerlager an sich ziehen.Zugleich ist die AfD eine unbekannte Variable. Es könnte sein, dass eine moderat linke Anti-Establishment-Position wie die von Wagenknecht zu spät kommt, weil mehr als ein Jahrzehnt AfD-Präsenz in öffentlichen und sozialen Medien die extreme Rechte und ihre Weltanschauung zunehmend gesellschaftlich verankert und aus Protest- zunehmend Überzeugungswähler gemacht hat.So oder so: Jeder sozialistische, liberale oder auch konservative Antifaschist müsste der Wagenknecht-Partei eigentlich Glück wünschen. Sie wird in naher Zukunft die einzige Kraft sein, die den Aufstieg der AfD und damit den Rechtsruck von CDU/CSU bremsen kann. Vielleicht wird die Linke, wenn sie sich politisch erneuert und wieder so radikal wird wie die Wirklichkeit, eines Tages selbst wieder als systemoppositionell wahrgenommen werden. Allein um Zeit zu gewinnen, müssten Linke auf einen Erfolg der Wagenknecht-Partei hoffen, damit sie sich nicht womöglich unter einer CDU-AfD-Bundesregierung in außerparlamentarischer Opposition erneuern muss.
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