Die Rückkehr der Wolfsbarsche

Tod im Mittelmeer Alle Bewohner*innen von Lampedusa sind mit dem Tod einer neuen Boatpeople-Generation vertraut

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Die Rückkehr der Wolfsbarsche

Foto: Pau Barrena/AFP/Getty Images

„In Süditalien herrscht ein gewissen Unvermögen zu kommunizieren, Frucht einer jahrhundertealten Kultur, in der das Schweigen ein Ausdruck von Männlichkeit war.“ Das Gesetz des Schweigens, die Omertà, wird mitunter gebrochen. Alle Bewohner*innen von Lampedusa sind mit dem Tod einer neuen Boatpeople-Generation vertraut. Die Dauerschleife des Sterbens auf See wirkt sich auf das Inselklima aus. Das berichtet Davide Enia in seiner Recherche „Schiffbruch vor Lampedusa“.

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Bevor das Mittelmeer zum Massengrab wurde, gab es vor Lampedusa keine Wolfsbarsche mehr. Die Rückkehr des Branzino, sein starkes Aufkommen in Küstennähe, zeigt an, was auf Lampedusa keinem entgehen kann: dass ein paar Kilometer vor dem europäischen Festland stündlich Menschen ertrinken und diese Ernte einige Kreisläufe beschleunigt.

Davide Enia, „Schiffbruch vor Lampedusa“, aus dem Italienischen von Susanne Van Volxem und Olaf Matthias Roth, Wallstein, 238 Seiten, 20,-

Davide Enia unterstellt seine Recherchen den Anspielungen eines wortkargen Fischers. So spielt der Autor auch das Leitmotiv des Textes an. Vielen Zeug*innen sind schon Anspielungen zu viel. Die Zurückhaltung des Fischers koinzidiert mit dem, so suggeriert es Enia, vielsagenden Schweigen des italienischen Südens.

Man müsse Sizilianer sein, um das Evokationspotential des Inselidioms begreifen, das historische Echo vernehmen und das Schweigen deuten zu können. Enia bezeichnet den Inseldialekt als „Muttersprache“. Die Register des Dringlichen würden für Fremde hinter verschlossenen Sprachtüren gesichtet. Das Schweigen vervollständige die Muttersprache.

„Ich bin in diesem Schweigen aufgewachsen.“

Bereits die Gesprächsaufnahme mit Fremden entspräche dem Bruch eines kulturellen Tabus.

„In Süditalien herrscht ein gewissen Unvermögen zu kommunizieren, Frucht einer jahrhundertealten Kultur, in der das Schweigen ein Ausdruck von Männlichkeit war.“

Das Gesetz des Schweigens, die Omertà, wird mitunter gebrochen. Alle Inselbewohner*innen sind mit dem Tod einer neuen Generation von Boatpeople vertraut. Die Dauerschleife des Sterbens auf See wirkt sich auf das Inselklima aus. Schiffsbrüchige, die auf Lampedusa europäischen Boden erreichen, verändern den von engsten Definitionen getakteten Inselrhythmus. Die Eingesessenen springen da über gewaltige Schatten, wo sie Fremden gegenüber gesellig werden.

Enia hat über die archaischen Begegnungen einen Nicht-Roman geschrieben, insofern er an der Absicht scheiterte, das afrikanische Unglück literarisch zu packen.

„Ich wollte einen Roman schreiben und erkläre mein Versagen mit dem ersten Wort: Notizen.“

Es gäbe noch kein Vokabular für Ereignisse in der Verlängerung vermiedenen Ertrinkens. Der Autor widerspricht sich selbst mit der nachträglichen Feststellung, die humanitäre Katastrophe ließe sich wohl in der Sprache des Krieges erfassen.

Der bekennende Pathetiker begründet seine Zuständigkeit für das Thema mit seiner Herkunft.

„Ich bin Sizilianer. Lampedusa ist sizilianisch.“

Sollte Enia der Insel ein Angebot gemacht haben, dass sie nicht ausschlagen konnte? Wir werden es nie erfahren. Enia recherchierte in der Gesellschaft seines Vaters.

„Mein Vater ist der typische Vater aus dem Süden. Er ist so stumm wie alle sizilianischen Väter.“

„Es ist leichter mit meiner Katze zu reden als mit meinem Vater.“

Auf Lampedusa begegnen Vater und Sohn dem Taucher Simone, einem Zeugen des küstennahen Bootsunglücks vom 3. Oktober 2013. Damals sank ein mit ca. 545 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea besetzter, in der libyschen Hafenstadt Misrata gestarteter Kutter. Sein Untergang besiegelte das Schicksal von 366 Passagieren.

Simone schildert die Havarie. Auch ein norditalienischer Hüne, der gleichfalls als Taucher sein Leben riskiert, bietet sich als Gewährsmann an. Die Sprache des Südens ergreift vorübergehend ganz von ihm Besitz. Obwohl ihn rassistische Vorurteile leiten, steht er auf dem Standpunkt: In Seenot sind alle gleich. Als Lebensretter geht er in Opposition zu seinen reaktionären Ansichten.

Jede Rettung ist mit einem Dilemma verbunden. Rettet man die drei direkt vor der Nase oder kümmert man sich um das halbe Kind mit Baby ein paar Meter weiter.

Ankommende haben keine Chance, ihre traumatischen Erfahrungen öffentlich in einer Muttersprache zu verarbeiten. Sie gehen über die schwankende Brücke einer Lingua franca. Viele erleben ihre Rettung als Wiedergeburt.

Auf der Insel wohnt Enia in der Pension einer Ex-Anwältin. Auch ihr schreibt der Beobachter ein mächtiges Schicksal zu. Enia erfindet eine magische Begründung für das Leben der Aussteigerin auf Lampedusa. Der Übertreibungsfuror und Inszenierungszwang schwächen die Darstellungen. Enia erscheint als Gaukler, der seinen Tricks nicht traut und mit Klamauk Brachen übergeht.

„Beim Schreiben gibt es keine Zufälle“, behauptet er. Liest Enia vor Publikum, erinnert sein mimisches und gestisches Repertoire an Szenen auf einem Rummelplatz.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

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