Armutsbetroffen: Wir müssen über Klassismus sprechen

Kolumne Unsere Kolumnistin hat mit Anfeindungen in den sozialen Medien zu kämpfen. „Geh arbeiten“ ist noch einer der harmloseren Kommentare auf die Berichte aus ihrem Alltag als Armutsbetroffene
„Ich bin eine von über 17 Millionen Armutsbetroffenen in diesem Land“
„Ich bin eine von über 17 Millionen Armutsbetroffenen in diesem Land“

Foto: picture alliance

Dieser Text ist der Kulturantropolog*in Francis Seeck gewidmet, deren wichtige politische Arbeit mir viel bedeutet

Ich möchte heute über ein mir sehr am Herzen liegendes Thema sprechen, dem Klassismus. Was das ist? Die Abwertung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft.

Francis Seeck definiert Klassismus, wie auch Sexismus oder Rassismus, als gesellschaftliche Unterdrückungsform, die sich gegen Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, oder gegen Erwerbslose, Armutsbetroffene und wohnungslose Menschen richtet. Diese Form der Diskriminierung wird oft ignoriert. Was für Auswirkungen Klassismus auf einen Menschen haben kann, werde ich hier beschreiben.

Ich bin seit gut 25 Jahren armutsbetroffen. Bis vor zwei Jahren hatte ich nicht mal ein Wort dafür, wie mit mir als Mensch umgegangen wurde, weil ich als Schülerin aus einer Arbeiter*innenfamilie kam.

Meine Eltern gehörten dem unteren Mittelstand an, zumindest haben sie nach Außen den Anschein gegeben. Als meine Mutter chronisch krank wurde und die zweite Einkommensquelle meiner Familie weggebrochen war, lebten wir prekär. Ich bin die erste in meiner Familie gewesen, die Abitur gemacht hat. In der Schule wurde mir oft vermittelt, dass ich „anders“ war. Ich konnte das Gefühl und den Umgang mit mir nicht richtig benennen, bis ich das Wort Klassismus kennenlernte. Deshalb wurde ich verlacht oder es wurde auf mich herab gesehen. Ich kam mir als Exotin vor. Und währen meine Klassenkameradinnen zum Abiturabschluss Geld oder ein Auto geschenkt bekamen, war ich froh, mir von meinem Geld überhaupt ein Kleid für den Abiball leisten zu können.

Der Armut ein Gesicht geben

Diskriminierung und Stigmatisierung aufgrund meiner Herkunft aus einer armen Familie begleiten mich seit meiner Pubertät. Durch das schlimme, menschenverachtende Menschenbild der CDU/CSU und der FDP, ihrer Bürgergelddebatte und den jetzt geplanten Vollsanktionen für „Totalverweigerer“ (was auch immer das genau sein soll) wird in Deutschland der Klassismus befeuert.

Ich bin seit Mai 2022 öffentlich in Erscheinung getreten, um als eine von über 17 Millionen Armutsbetroffenen der Armut ein Gesicht zu geben. Und um auf die Vielfalt von Armut in Deutschland aufmerksam zu machen sowie über Armut aufzuklären, damit genau dieser Klassismus keinen Nährboden findet.

Seitdem ich unter meinem Namen schreibe, werde ich angefeindet, besonders gern im Internet, da die Anonymität der sozialen Netzwerke sich zum Beleidigen und Hetzen besser eignet. Allerdings zeigen viele der anonymen Hetzer mehr von ihrem menschenverachtenden Weltbild als mir lieb ist. Dass unter meinen Tweets auf X (früher Twitter) oft ein lapidares „geh arbeiten.“ Geschrieben wird, ohne sich damit auseinandergesetzt zu haben, dass ich nicht arbeitsfähig bin wegen voller Erwerbsminderung. Das zeigt, wie schnell Armutsbetroffenheit mit Erwerbslosigkeit gleichgesetzt wird.

Unter den Vorurteilen ist alles dabei: ich sei ungebildet (mein Abitur sei nichts wert), ich wäre „zu faul“, mir Arbeit zu suchen oder meine Wohnung aufzuräumen – denn diese Menschen haben sich nicht ansatzweise mit dem Krankheitsbild Depression auseinandergesetzt. Dass ich nicht arbeiten KANN, weil ich krank bin, ist vielen immer noch ein Rätsel. Daher müsse ich ja eine Simulantin sein. Und dann wäre ich ja fähig, noch „Aktivismus“ zu betreiben. Das wird dann als Beweis herangezogen, dass ich ja doch arbeitsfähig wäre.

Der Sport hilft gegen Depressionen

Denn die selbsternannten Erwerbsunfähigkeitsgutachter auf X wissen es eben besser. Hinzu kommen übergriffige Kommentare, wie ich mich zu kleiden, woran ich zu sparen und wie ich zu wohnen hätte. Natürlich möchte ich mir nicht vorschreiben lassen, was ich essen soll und wie ich einzukaufen habe. „Unnötiger Luxus“ (was immer im Auge des Betrachters liegt) gehe gar nicht, schreiben sie. So ist mein monatlicher Fitnessstudiobeitrag ein Dorn im Auge dieser Menschen – denn wenn ich sowieso nicht arbeiten kann, was soll ich dann im Fitnessstudio?

Der Sport ist für mich inklusive der Medikamente, die ich einnehmen muss, eine der wenigen Möglichkeiten, meine chronische Depression stabil zu halten. Ich mache den Sport als Notwendigkeit, denn ohne die Bewegung bin ich instabiler. Da ich ein Kind zu versorgen habe, treffe ich alle Vorkehrungen, um selbstverständlich weiterhin stabil und gesund zu bleiben, damit ich als Mutter für mein Kind da sein kann. In den Bereichen, in denen es nicht geht, bin ich reflektiert und mutig genug, um mir Hilfe zu holen.

Auch immer Thema ist mein Kind. Ich hätte nach Ansicht der Hater dieses Kind gar nicht haben dürfen. Alternativ bin ich deswegen egoistisch, weil ich es ja in die Armut hineingeboren habe. Dass ich während der Zeit in einer Partnerschaft gelebt habe und wir eine Familie waren, wird vollkommen außer Acht gelassen. Ich hätte nie gedacht, jemals als Alleinerziehende klarkommen zu müssen. Hier greift wieder der Klassismus: ärmere Mütter und Vater sind angeblich weniger in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern und werden als Eltern noch mehr unter Druck gesetzt als Eltern aus wohlhabenderen Familien.

Ein Vorurteil, denn Kindeswohlgefährdung und Gewalt gehen durch alle Schichten. Das Gegenteil ist eher der Fall, gerade weil Eltern arm sind, versuchen sie so viel wie möglich dem Kind möglich zu machen und denken zuerst an das Kind. Es ist schlichtweg eine Lüge, dass alle armutsbetroffenen Eltern Geld für Zigaretten und Alkohol ausgeben würden. Wer dies propagiert, will gegen Arme Stimmung machen. Der Armutsbetroffene als Feindbild scheint immer noch zu funktionieren.

Anonyme Meldungen beim Jugendamt

Ich muss mir anhören, mit der Höhe des Regelsatzes wäre ich ja „verwöhnt“ und ich müsste viel weniger Hilfen erhalten. Abwechselnd bin ich ein „Sozialschmarotzer“ oder „faul“. Der NS-Kontext lässt nicht lange auf sich warten. So mehren sich unter meinen Tweets Beschimpfungen wie „arbeitsscheu“. Rein wirtschaftlich gesehen bin ich „nicht verwertbares Humankapital“ und das reicht als Grund, Menschen wie mich „abschieben“ zu wollen (wohin?) oder „endlich mal ins Arbeitslager“ zu schicken, wo mir „meine Faulheit“ schon ausgetrieben werden würde.

Gerade vor Weihnachten hat sich der Armenhass so zugespitzt, dass durch die immer noch vorherrschende Bürgergelddebatte armutsbetroffene Menschen beim Jobcenter, beim Sozialamt oder beim Jugendamt gemeldet worden sind, wie ich auch aus meinem Umfeld gehört habe. Verstehen Sie mich hier nicht falsch: Ich finde es wichtig und richtig, Sozialbetrug und Kindeswohlgefährdung zu melden. Aber wer anonyme Meldungen benutzt, um Armutsbetroffene, die chronisch krank und genug damit beschäftigt sind, ihren Alltag in Armut zu meistern, diffamiert und ihnen damit das Leben schwer macht, weil er sich als moralisch überlegen oder etwas Besseres sieht – der ist in meinen Augen nichts anderes als ein Sozialdarwinist, der nicht nur harten Klassismus verteidigt, sondern auch das Sozialstaatsprinzip nicht verstanden hat.

Steuern, die die arbeitenden Menschen zahlen, gehen in die Staatskasse. Der Staat verteilt diese Gelder auch an Bedürftige. Das heißt aber nicht, dass jemand, der arbeitet, über mich als Transferleistungsempfängerin entscheiden kann, was ich zu tun und zu lassen habe. Meine Sachbearbeiterin beim Amt hat über meinen Bezug zu entscheiden aufgrund des Sozialgesetzbuches und nicht ein „besorgter Bürger“.

#Armutsbetroffen

Janina Lütt lebt mit ihrem Kind in Elmshorn. Auf freitag.de schreibt sie eine regelmäßige Kolumne über den Kampf mit und gegen Armut

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Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

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