Na dann kündigt doch euren Job und legt euch in die soziale Hängematte!

#IchbinArmutsbetroffen Wer vom Bürgergeld lebt, genießt das Leben in aller Faulheit? Unsere Autorin Janina Lütt hat die Nase voll von neoliberalen Leistungsmythen – und ermutigt zu Widerstand: Nur wer sich dem eigenen Armutsrisiko stellt, kann klar sehen
Weniger gemütlich als es aussieht
Weniger gemütlich als es aussieht

Foto: Imago/Westend61

Neben dem angeblich „faulen Bürgergeldempfänger“ ist der zweitschlimmste neoliberale Mythos die sogenannte „soziale Hängematte“. Für Menschen, die nicht mit der Lebensrealität von Armutsbetroffenen vertraut sind, ist es einfach, solche dahergesagte Begrifflichkeiten zu übernehmen. Diese Bürgergeldempfänger hätten ja den „Luxus“, nicht zu arbeiten. Das ist eine Form von Kleingeistigkeit, die mir ernsthaft Sorgen macht. Ich rate dann gern: Wenn Sie meinen, dass das Leben als Armutsbetroffene so gemütlich ist, dann kündigen Sie doch ihren Job und lassen Sie sich in diese nicht vorhandene goldene Hängematte fallen. Und dann reden wir weiter.

Dass über Armut falsche Aussagen gemacht und Armutsbetroffene politisch instrumentalisiert werden, dient als Mittel, sie gegen die sogenannte „hart arbeitende Mitte“ auszuspielen. Diese Diffamierung von Armutsbetroffenen hat System und kaum jemand, der nicht selbst betroffen ist, hinterfragt dieses System. Warum wird dauernd über Bürgergeldempfänger berichtet, die im Niedriglohnsektor arbeiten oder arbeitssuchend sind – aber kaum über die armutsbetroffenen Rentner*innen, die pflegenden Angehörigen, die körperlich oder psychisch Kranken, die Behinderten, die Auszubildenden, die meistens mit ihrem Gehalt unter die Armutsgrenze fallen oder die Studenten, die temporär zu den Armutsbetroffenen zählen? Weil es einfacher ist, die Mär der Faulheit in der ersten Gruppe aufrechtzuerhalten, während bei letztgenannten offensichtlich wird, dass die Leistungsideologie ins Unmenschliche kippt.

Nur 2,7 Prozent im Bundestag haben einen Hauptschulabschluss

Es gibt nicht DEN Bürgergeldempfänger oder DIE Armutsbetroffenen. Es ist keine homogene Gruppe, das wird bei den Debatten über Armut gern vergessen. Da Armutsbetroffene fast gar keine Lobby haben (die Sozialverbände sind hier lobend zu erwähnen, ebenso die Initiative Sanktionsfrei), ist der Widerspruch und das Richtigstellen von Behauptungen über Arme fast gar nicht vorhanden. Es mangelt an Fachwissen über Armut. Geben Sie mal „Armutsforscher“ in eine Suchmaschine ein, der einzige Wissenschaftler, der Ihnen angezeigt wird, ist der unermüdliche Christoph Butterwegge. Soweit ich weiß, sitzt in der Regierung nicht ein Armutsbetroffener, um Arme zu repräsentieren, auch wird darüber kaum gesprochen und die Herkunft wenig erfasst. Nur 2,7 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben einen Hauptschulabschluss, vor 30 Jahren waren es noch über 10 Prozent.

Aber auch außerhalb der höchsten demokratischen Gremien unserer Republik gibt es kaum Berührungspunkte zwischen Regierenden und Armen. Armutsbetroffene bewegen sich hauptsächlich in ihrem armutsbetroffenen Umfeld: Bei der Tafel, in Sozialkaufhäusern oder in Treffpunkten wie Sozialkaffees, in denen niederschwellig Sozialarbeit gemacht wird. Wenn Arme denn überhaupt soziale Kontakte pflegen können. Viele Sozialkaufhäuser bedienen nur Arme als Klientel, sodass hier zwar geholfen werden kann, aber gleichzeitig ist es ein geschlossener Raum, der nur für Arme da ist. Eine Parallelgesellschaft. Es findet kein Austausch mit Nicht-Betroffenen statt. Noch dazu sind diese Einrichtungen jetzt in Not: Der geplante Bundeshaushalt für 2024 sieht für alle Jobcenter Deutschlands Einsparungen von 700 Millionen Euro vor, sodass erste Sozialkaufhäuser bald schließen müssen. Auch hier gilt: Wer nicht weiß, wie existenziell diese Kaufhäuser sind, der entscheidet eben schnell über die Schließung.

Soziale Mischung? Der Wohnungsmarkt findet das nicht so gut!

Das Nebeneinander-her-Leben führt dazu, dass immer weniger Kontakt zwischen Armen und Reicheren besteht. Es findet kein Austausch statt und gerade dieser wäre so wichtig, um gegen Vorurteile angehen zu können. Soziale Spaltung wird auch in der Wohnsituation deutlich. Jede Stadt hat ein oder mehrere Viertel, die aufgrund der Häufung von armutsbetroffenen Personen in Verruf geraten sind und über die es sensationsgierige Berichte im Fernsehen gibt – und Viertel, in denen Reiche wohnen, über die aber niemand berichtet. Sinnvoll wäre es, in Vierteln mit gemischter Klientel zu wohnen, aber der Mietpreis weiß dies zu verhindern. Und wieder weiß der Markt die Klischees gegenüber Armen zu Geld zu machen.

Solange das Bild von Armut von Vorurteilen beherrscht wird, sind für die Entscheidungsträger dieses Landes Argumente gegen Regelsatzerhöhungen glaubwürdiger als Berichte über die Lebensrealität der Betroffenen. Deshalb schreibe ich: Damit diese Menschen eine Betroffene wahrnehmen und deren Leben in Armut. Ich kann nur jedem Menschen Mut machen, über den Tellerrand zu schauen – dahin, wo es nicht schön ist: in das Leben von armutsbetroffenen Menschen. Und jedem armutsbetroffenen Menschen möchte ich sagen: Bitte traue dich, über deine Armut zu sprechen. Du bist nicht alleine, sondern einer von den 17,3 Millionen Armutsbetroffenen in Deutschland. Armut muss nicht nur sichtbar werden, sondern so gut es geht begreifbar.

Und wie viele Armutsbetroffenen kennen Sie?

Es erfordert sehr viel Mut, offen und laut den jahrzehntelangen Vorurteilen über Armutsbetroffene entgegenzutreten. Aber Armut kann jeden von uns treffen. Manchmal ist man nur einen Verkehrsunfall, eine Familienkrise, eine Scheidung, eine Insolvenz, eine Krankheit und/oder einen Jobverlust von der eigenen Armut entfernt. Machen Sie sich schlau. Hinterfragen Sie die Aussagen und Behauptungen über Armut, die Sie hören und lesen. Trauen Sie sich, wenn möglich, in den Dialog zu gehen mit Armutsbetroffenen. Wir können nur vom Miteinader Reden profitieren.

Wie viele armutsbetroffene Menschen kennen Sie in Ihrem Umfeld?

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden