Organisierte Verelendung

JobCenter Eine Arbeitshilfe möchte Sozialleistungsmissbrauch bekämpfen, macht dabei aber aus Opfern Täter. Gegen den institutionalisierten Rassismus regt sich jetzt Widerstand

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Organisierte Verelendung

Foto: imago images / imagebroker

Nachdem sich ihr Dreijähriger beruhigt hat, frage ich Frau Popescu, wieso sie sich damals auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten. Das Kind ist von den Nächten, die die Familie in verschiedenen Berliner U-Bahnhöfen zugebracht hat, noch immer stark verängstigt und schreit hysterisch. Frau Popescu heißt in Wirklichkeit anders; ihren Mann will ich Herrn Turcan nennen.

Die beiden sind verheiratet, allerdings ohne Heiratsurkunde, ohne einen gemeinsamen Familiennamen, ohne in Kirche oder Standesamt gewesen zu sein - sondern nach Roma-Sitte. Frau Popescu ist 18 Jahre alt als wir uns kennenlernen, ihr Mann 20. Aus der rumänischen Donaustadt Giurgiu, 80 km südwestlich von Bukarest, sind sie 2017 nach Berlin gekommen. Zu Hause gab es kein Auskommen; die Tagelöhnerjobs waren unsicher und sehr schlecht bezahlt. Sie kamen in ein Land und eine Stadt, über die sie nichts wussten, außer das, was sie von ihren Bekannten gehört hatten.

Herr Turcan, groß, kräftig, strahlende Augen, schaut nach seinem Sohn. Er kommt gerade von Arbeit und muss heute unbedingt persönlich in der Beratungsstelle dabei sein, um ein paar Unterlagen zu unterschreiben. Herr Turcan spricht noch kaum Deutsch und hat in Rumänien die Schule nur wenige Jahre besucht; er unterschreibt mit einem großen „T“, um das er einen Kreis malt. Immer wenn ich Ihn sehe, trägt er Arbeitsklamotten, er kommt von der Arbeit und muss auch meist wieder dorthin zurück. Der Blaumann macht ihn sichtlich stolz.

2018 müssen wir vors Berliner Sozialgericht. Das JobCenter hat die Leistungen eingestellt mit der Begründung, Herr Turcans Arbeitsverhältnis sei vorgetäuscht, es handele sich nicht um eine „tatsächliche und echte Tätigkeit“, wie es das JobCenter nennt. Es ist Frühsommer als wir im Gang des Sozialgerichts sitzen, Frau Popescu hat eine Plastiktüte dabei. Seit das JobCenter Anfang des Jahres die Leistungen eingestellt hat, sind sie wieder obdachlos. Vorher lebten sie als Wohnungslose in einer Ferienwohnung; die Kosten der Unterkunft trug das JobCenter.

Auch Herrn Turcans Arbeitgeber ist zum Sozialgericht gekommen. Er ist Bauunternehmer, Deutscher, Berliner. Die Firma gehört seiner Frau, vor einigen Jahren hatte er mal ein Verfahren wegen Schwarzarbeit am Hals. Er soll erzählen, seit wann Herr Turcan bei ihm arbeitet, welche Aufgaben er hat. Es soll geprüft werden, ob Herr Turcan gegenüber dem JobCenter die Wahrheit gesagt hat. Der Arbeitgeber kann einige Unterlagen, die der Richter sehen möchte, nicht vorlegen.

Während Frau Popescu im Flur wartet, wird ihr Mann vom Richter befragt. „Sie hatten also ein ganz kleines Kind und haben dann beschlossen, dass Sie nicht mehr bei den Eltern wohnen, sondern in ein fremdes Land ziehen?“ „Leiden Sie an einer gesundheitlichen Einschränkung, die Ihr Erinnerungsvermögen einschränkt, beispielsweise an einer psychischen Erkrankung?“ „Können Sie nachvollziehen, dass es schwerfällt, nachzuvollziehen, dass Sie sich an keine Einzelheiten aus dieser Zeit mehr erinnern können?“ „Was ist passiert, nachdem Sie aus der Wohnung rausgeworfen worden sind?“ „Wieso gehen Sie zur [...]straße, wenn Sie in […] das Auto zum Übernachten hatten?“ „Wieso wissen Sie den Nachnamen Ihres Chefs?“ „Wo haben Sie letzte Woche gearbeitet?“ „Welche Adresse hatte das Haus, wo Sie gearbeitet haben?“ Die Befragung dauert fast 5 Stunden. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass Herr Turcan seine Arbeitnehmereigenschaft nicht ausreichend hat glaubhaft machen können.

Die Familie hat ca. ein Jahr Grundsicherungsleistungen vom JobCenter bezogen, sie war krankenversichert, hatte ein Dach über dem Kopf. Auch das Jugendamt war davon überzeugt, dass die drei eine Chance bekommen sollten und gewährte eine Familienhilfe. Die Anmeldung zum Deutsch-Kurs sollte nun endlich erfolgen, die Kita-Platzsuche lief seit Monaten und es war eine Frage der Zeit bis auch Frau Popescu einen Job und alle eine eigene Wohnung gefunden hätten. Daraus wurde nichts.

Seit die Bundesagentur für Arbeit 2018 eine erste Arbeitshilfe „Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“ herausgegeben hat, ist der Zugang zum SGB II für prekär lebende und arbeitende rumänische und bulgarische UnionsbürgerInnen in Deutschland kaum mehr möglich. Hintergrund der Arbeitshilfe sind Fälle, in denen Leistungen an EU-BürgerInnen gezahlt worden waren, die darauf keinen Anspruch hatten. Das unrechtmäßige Beziehen von Sozialleistungen erfüllt den Straftatbestand des „Sozialleistungsmissbrauchs“; zuständig sind dafür die Strafverfolgungsbehörden.

Mit der Arbeitshilfe, die in leicht abgewandelter dritter Auflage immer noch Anwendung findet, werden rechtsstaatliche und sozialstaatliche Prinzipien in einer Weise pervertiert, die im „zivilisierten“, „modernen“, „demokratischen“ Westeuropa schlechterdings unmöglich schienen. Tatsache ist, dass die Arbeitshilfe eine Anleitung zum instututionalisierten Rassismus ist. Sie lässt aus Opfern von Arbeitsausbeutung Täter werden. Sie bedingt, dass in deutschen Behörden neuerdings wieder das Prinzip der „Sippenhaft“ Anwendung findet. Wer mit rumänischem oder bulgarischem Pass heute einen Antrag auf Grundsicherung stellt, weil der erbärmliche Lohn im grauen oder schwarzen deutschen Niedriglohnsektor zum Leben nicht reicht, oder weil man kurzerhand rausgeworfen wurde – wie in Corona-Zeiten Tausende – dem wird statt Hilfe zur Sicherung der Existenz der Vorwurf der „missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ gemacht.

Dagegen regt sich nun Widerstand. Am vergangenen Montag haben 11 Sozialverbände einen Brief ans Bundesarbeitsministerium unterzeichnet, in dem Sie den Umgang der JobCenter mit anspruchsberechtigten EU-BürgerInnen verurteilen. Sie stellen fest, dass die Arbeitshilfe Personen bestimmter Staatsangehörigkeit, bzw. ethnischer Herkunft stigmatisiere, einen Generalverdacht gegenüber Personen in prekären Beschäftigungsverhältnissen einführe, Opfer zu Tätern mache und integrationspolitisch kontraproduktiv sei. Sie fordern die Rücknahme dieser Arbeitshilfe durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem die Bundesagentur für Arbeit zugeordnet ist.

Frau Popescu und Herr Turcan sind nicht zurück nach Rumänien gegangen. Sie haben sich Geld geborgt, wohnen vorübergehend bei Bekannten. Herr Turcan arbeitet weiterhin auf dem Bau. Sie wollen es schaffen – auch ohne die Hilfe, die ihnen zusteht.

Der offene Brief von GGUA Flüchtlingshilfe e.V. und Tacheles e.V., sowie weiterer Verbände ist hier veröffentlicht:
https://ggua.de/fileadmin/downloads/unionsbuergerInnen/Brief_Arbeitshilfe_BMAS.pdf

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