Carlo Masala im Gespräch mit Jakob Augstein: „Ich nehme Wladimir Putin beim Wort“
Im Gespräch Carlo Masala hat eine Idee, wie die Ukraine nach einem Friedensschluss aussehen könnte. Weshalb er dabei an Südtirol denkt und warum er als gläubiger Katholik kein Pazifist ist, hat er Jakob Augstein erzählt
Carlo Masala war am 25. März 2024 zu Gast bei Jakob Augstein im Literaturhaus Berlin
Foto: Philipp Plum für der Freitag
Der Krieg in der Ukraine dauert nunmehr zwei Jahre. In dieser Zeit sind die Gewissheiten von Freitag-Verleger Jakob Augstein immer weniger geworden – und die Fragen immer mehr. Zum Beispiel: Hatte Wladimir Putin Grund, sich von der NATO bedroht zu fühlen? Was würde passieren, wenn Deutschland aufhören würde, Kiew militärisch zu unterstützen? Der Militärexperte Carlo Masala hat ihm geantwortet. Teilt der gläubige Katholik die Friedensrhetorik seines Papstes?
Jakob Augstein: Herr Masala, was passiert, wenn wir der Ukraine nicht mehr militärisch helfen?
Carlo Masala: Ich kenne die ukrainische Armee ein bisschen und weiß, welche Überlegungen da angestellt werden. Ich war während des Krieges ein paar Mal dort und habe mich mit den
r militärisch helfen?Carlo Masala: Ich kenne die ukrainische Armee ein bisschen und weiß, welche Überlegungen da angestellt werden. Ich war während des Krieges ein paar Mal dort und habe mich mit den Leuten unterhalten. Meine Einschätzung ist: Wenn eine Situation eintritt, wo wir nicht mehr ausreichend liefern, geht das in einen Partisanenkrieg über in den besetzten Gebieten. Das heißt: Ruhe geben würde es da nicht in den nächsten Jahren. Wenn wir hingegen weiter liefern, können wir russische Vorstöße effektiv verhindern. Das haben wir beim Ansturm auf Awdijiwka gesehen: Die Ukrainer waren in der Lage, die Stadt zu halten – bis ihnen die Munition ausging.Manche sagen, Putin fühlte sich von der NATO bedrängt und wollte seine Einflusssphäre sichern. Deswegen habe er die Ukraine angegriffen. Was halten Sie von dieser Erklärung?Wenn man sich ganz einfach die Fakten anguckt, sieht man, dass dieser Ansatz falsch ist.Erklären Sie mal die Fakten.Gern. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 war die US-Regierung dafür, Georgien und die Ukraine sofort aufzunehmen – Angela Merkel und NicolasSarkozy waren aber dagegen. Deswegen hat man diese historische Kompromissformel gefunden: Georgien und die Ukraine werden irgendwann, eines Tages Mitglieder der NATO. Aber bis zum Jahr 2022, als Putin die Ukraine angriff, gab es keinerlei konkrete Schritte in diese Richtung. Es lässt sich empirisch also nicht belegen, dass Putin an seinen Grenzen bedroht wurde.Placeholder infobox-2Könnte es nicht sein, dass Putin so denkt: Die Angriffe auf Georgien 2008 und auf die Ukraine 2022 sind Präventivschläge gewesen – damit die beiden Länder auch in Zukunft niemals in die NATO eintreten werden?Nein. Staaten werden auf eine Mitgliedschaft in der NATO technisch vorbereitet. Es gibt dafür den sogenannten Membership-Action-Plan – ein Prozess mit konkreten Maßnahmen, die einen Beitritt zur Allianz erleichtern sollen. Georgien und der Ukraine wurde dieser Action-Plan nie zugesagt. Mit anderen Worten: Putin wusste, dass eine Mitgliedschaft alles andere als kurz bevorsteht.Warum haben Außenpolitikexperten älteren Semesters oft eine andere Sicht auf den Ukraine-Krieg? Ich denke an Henry Kissinger, der nicht nur Russland als Schuldigen ausmachte. Oder an John Mearsheimer, George Kennan – die Alten schätzen die Lage oft ganz anders ein als Sie oder Frau Baerbock.Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Diese Männer denken noch in der Logik des Kalten Krieges. In dieser Logik war die Sowjetunion in Europa eine Status-quo-Macht. Ihr ging es um nichts anderes als die Absicherung ihrer Eroberungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das wurde 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki manifestiert: Grenzen dürfen nur friedlich verschoben werden. Und damit war die Sowjetunion super zufrieden! Der Unterschied zu heute: Wir haben es bei Putins Russland nicht mehr mit einer Status-quo-Macht zu tun.Sondern?Wir befinden uns schon lange in einem neuen machtpolitischen Konflikt. Auf der einen Seite: Revanchistische Mächte wie Russland, die das Konstrukt, das sich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes herausgebildet hat, herausfordern. Auf der anderen Seite Status-quo-Mächte, die das System, das sich seit 1945 entwickelte, in seinen Grundzügen erhalten wollen. Der Ukraine-Krieg ist der bisherige Höhepunkt dieser Auseinandersetzung.Da fällt mir eine Geschichte von Donald Trump ein: Im Frühjahr 2017 wurde ihm im NATO-Hauptquartier in Brüssel die Beistandspflicht der Allianz erklärt. Wahrscheinlich hatte er noch nie davon gehört. Seine Reaktion: Wie jetzt? Wenn Moskau einen Angriff auf Litauen startet, müssen wir Amerikaner einen Krieg mit Russland starten? Das sei doch verrückt!Daran sehen Sie: Ein russischer Angriff auf das Baltikum ist real. Trotz NATO-Mitgliedschaft.Ich würde sagen, es ist genau umgekehrt: Wenn Putin das gewollt hätte, dann hätte er es längst gemacht. Denn die Vorstellung, dass Amerika für Litauen den dritten Weltkrieg beginnt, war schon immer irrsinnig. Trump hat nur ausgesprochen, was sowieso allen klar war.Das mag ja sein. Die Frage ist nur: Was folgt daraus für die Abschreckungslogik?Die europäischen NATO-Länder geben 215 Milliarden Dollar pro Jahr für das Militär aus, die Russen 109 Milliarden. Das ist ja wohl Abschreckung genug.Das ist die materielle Komponente der Abschreckung: Wer hat mehr Panzer, wer hat mehr Flugzeuge und so weiter? Da steht die NATO tatsächlich deutlich besser da als Russland. Abschreckung hat aber auch ein psychologisches Momentum: Glaubt mein Gegner, dass ich reagieren würde, wenn es hart auf hart kommt? Selbst wenn ein rational denkender Mensch sagt, für die wenigen Einwohner im Baltikum würde Amerika nie seine eigene Vernichtung riskieren, muss es in Russland daran Zweifel geben. Ist Washington vielleicht doch verrückt genug, das zu machen? Das ist dasselbe Prinzip wie mit Taiwan: Die Chinesen müssen glauben, dass Amerika die Insel im Fall eines chinesischen Angriffs verteidigen würde. So funktioniert Abschreckung.Ist China auch eine revisionistische Macht?Mit Blick auf das internationale System: ja. China versucht – legitimerweise! – internationale Organisationen so umzugestalten, dass sie mehr seinen Interessen entsprechen. Die haben in den letzten Jahren eine Menge regionaler Organisationen gegründet, in denen sie dominieren.Was ist das deutsche Ziel im Ukraine-Krieg?Das wissen wir alle nicht.Finden Sie das nicht beunruhigend?Ich kann auch nur darüber spekulieren, was Olaf Scholz will. Es gibt ja diesen Satz von ihm: Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland darf nicht gewinnen. Was das bedeutet, wissen wir nicht.Würden Sie diesen Satz genauso formulieren?Ich würde sagen: Russland muss in der Ukraine eine politische Niederlage erleiden. Das bedeutet aber nicht, dass man Russland aus dem Land heraustreibt – das wird nämlich nicht funktionieren.Wie sähe so eine politische Niederlage aus?Zum Beispiel so: Die Russen ziehen sich militärisch aus dem Donbass und von der Krim zurück, dafür bekommen diese Regionen innerhalb des ukrainischen Staatsgebildes ein hohes Maß an Autonomie. Als gebürtiger Italiener sage ich jetzt mal: Südtirol könnte ein Vorbild sein!In der Ukraine würde es nach einem Friedensschluss sicher etwas anders aussehen als im schönen Südtirol, oder?Natürlich. Da müssten auf beiden Seiten entmilitarisierte Zonen geschaffen werden, um Überraschungsangriffe auszuschließen.Wir kennen das Kriegsziel der deutschen Regierung nicht, aber Selenskyj hat sein Ziel klar formuliert: Die russischen Truppen ziehen sich zurück aus den besetzten Gebieten – inklusive der Krim –, es gibt Reparationszahlungen und eine juristische Aufarbeitung vor einem internationalen Gerichtshof.Davon werden zwei Sachen definitiv nicht stattfinden: Reparationszahlungen und die Aufarbeitung vor einem internationalen Gerichtshof.Sie glauben also doch, ein kompletter Rückzug sei realistisch?Ich bin mit Prognosen zurückhaltend. Ohne großer Clausewitz-Fan zu sein, bei einer Sache hatte der Alte einfach recht: Der Nebel des Krieges ist so dicht, dass sich Situationen relativ schlagartig ändern können. Momentan ist ein kompletter Rückzug der Russen aber noch völlig unrealistisch.Sind Sie mit der deutschen Debatte über den Ukraine-Krieg zufrieden? Finden Sie, wir machen das gut: die Politiker, die Medien ...Ich finde unsere Debatte gruselig.Warum?Weil wir seit zwei Jahren über das Gleiche sprechen. Zum Beispiel höre ich ständig Politiker und Intellektuelle über Defensiv- und Offensivwaffen reden. Dabei hatten wir uns schon Mitte 2022 darauf geeinigt, dass Waffen weder defensiv noch offensiv sind. Entscheidend ist, wie sie eingesetzt werden.Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, hat gerade in der „FAZ“ und anderen europäischen Medien geschrieben: Wir müssen zu einer Kriegswirtschaft übergehen. Mir macht das Angst.Mir nicht. Es ist unbedeutend, was Michel sagt. Die Mitgliedstaaten entscheiden, ob sie das machen oder nicht. Nicht die Europäische Union.Die Premierministerin von Estland, Kaja Kallas, hat gesagt: Wir geben in den nächsten vier Jahren 0,25 Prozent unseres Verteidigungshaushaltes für die Ukraine aus. Wie finden Sie das?Gut. Entweder wir legen uns im Rahmen der Europäischen Union oder in einer Koalition der Willigen auf eine Quote fest, wie viel die einzelnen Länder in den nächsten drei, vier Jahren für die Unterstützung der Ukraine ausgeben. Oder, das wäre der andere Weg, wir machen das über eine gemeinsame Verschuldung innerhalb der EU.Die Militärausgaben der EU-Länder in der NATO sind in den letzten zehn Jahren um fast 50 Prozent gestiegen. Da ist es doch grotesk, zu sagen, wir müssten mehr für unsere Verteidigung ausgeben.Na ja, man muss sich auch anschauen, wofür das Geld ausgegeben wird. Verteidigungshaushalte gehen zum größten Teil nicht in Investitionen für Beschaffung.Sie meinen, das ist wie beim ZDF? Da geht auch nicht alles in das Programm …Genau richtig! Es heißt ja immer, die Deutschen geben 50 Milliarden in ihren Verteidigungshaushalt – warum zur Hölle kriegen die ihre Bundeswehr nicht hin? Dann rechnet man das alles mal durch und stellt fest: Zwei Fünftel gehen für Personal drauf; noch mal zwei Fünftel für die Materialerhaltung; und nur ein Fünftel in Investitionen. So kriegen wir die Probleme der Bundeswehr nicht in den Griff.Sind Sie eigentlich katholisch?Ja.Und wie fanden Sie die jüngste Aussage des Papstes?Ich bin zwar katholisch, aber nicht papsttreu. Deswegen kann ich sagen: Dass er vorgeschlagen hat, die Ukraine solle die weiße Fahne schwenken, fand ich dumm.Der Papst hat im Wortlaut geschrieben: Wenn du siehst, dass du besiegt bist, dann musst du den Mut haben, zu verhandeln. Dafür musst du dich nicht schämen. Was ist daran dumm?Das wäre ein kluger Satz, wenn die andere Seite zum Verhandeln bereit wäre.Hat denn jemand in letzter Zeit bei Putin angerufen und gefragt?Es gibt einen brasilianischen Friedensplan. Es gibt einen chinesischen Friedensplan. Es gibt einen Friedensplan der Afrikanischen Union. Als der chinesische Emissär bei Putin war, hat Kremlchef Peskow noch am gleichen Tag gesagt: Das ist ja nett, aber total unrealistisch. Das muss man so akzeptieren. Ich nehme Putin beim Wort.
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