Immer wieder brennt sich eine Szene förmlich ein. Da gibt es zum Beispiel den kaum zu greifenden Moment am Ende von Steffi Niederzolls furiosem und erschreckendem Dokumentarfilm Sieben Winter in Teheran: Shole Pakravan sitzt im Auto, drumherum skandieren Demonstrierende für ihre Tochter Reyhaneh Jabbari. Die Mutter hofft bis zum letzten Moment, dass ihre Tochter leben wird. Dann öffnet eine Frau die Beifahrertür, nimmt Shole in den Arm und sagt, dass ihre Tochter erhängt wurde.
In Sieben Winter in Teheran rekonstruiert Regisseurin Niederzoll mit privaten Aufnahmen, Gesprächen mit Familienmitgliedern und Reyhanehs persönlichen Briefen aus iranischen Gefängnissen den Fall. Die damals 19-jährige Studentin wurde zum Tode verurteilt, weil sie den T
erurteilt, weil sie den Täter beim Vergewaltigungsversuch erstach. Weil Reyhaneh die Anschuldigungen gegen den Mann nicht zurücknahm, nutzte dessen Familie das „Recht auf Blutrache“ und sorgte dafür, dass sie mit 26 Jahren gehängt wurde.Es ist ein intensiver Auftaktfilm, mit dem Jenni Zylka ihre erste Perspektive als Sektionsleiterin gleich in die Vollen gehen ließ. Zylka, die als Autorin auch für den Freitag schreibt, erzählte im Interview, dass es bei der Filmsichtung den Moment geben müsse, in den sie sich verliebe, und das könne auch nur eine Szene sein. Wer sich durch das aus vier langen Spielfilmen, drei Dokumentarfilmen und drei mittellangen Spielfilmen bestehende Programm schaut, wird verstehen, was sie damit meint.Auch wenn es in der Natur der Nachwuchssektion liegt, dass die Erst- und Zweitwerke weniger durch Perfektion bestechen, sondern durch Leidenschaft, Mut und einen frischen Blick, hat jeder der Filme erinnerungswürdige Momente und eine eigene Handschrift, darunter mit João Pedro Prados und Bárbara Santos Ash Wednesday sogar ein rhythmisches Kurzmusical über Rassismus und Polizeigewalt in einer brasilianischen Favela.Die anderen Dokumentarfilme der Sektion, Fabiana Fragales, Kilian Kuhlendahls und Jens Mühlhoffs Vergiss Meyn Nicht und Kilian Armando Friedrichs und Tizian Stromp Zargaris Nomades du nucléaire, agieren ebenfalls am Puls der Zeit. Ersterer erzählt auf Grundlage des Filmmaterials von Steffen Meyn, der während der Räumung des Hambacher Forsts von einem Baum fiel und starb, vom Klimaprotest, von Gemeinschaft und Aktivismus. Nomades du nucléaire wirkt dagegen wie eine Film gewordene Dystopie. Vor rauchenden Schloten entwirft der Film das Porträt französischer Arbeitsnomaden, die unter prekären Verhältnissen in wechselnden Atomkraftwerken arbeiten.Formal streng geht es in Engin Kundağs Drama Ararat zu. In einem Haus am Fuße des gleichnamigen Vulkans erzählt Kundağ ein kammerspielartiges Drama um eine sexuell aggressive Tochter und um Verhaltensmuster in einer dysfunktionalen Familie. Wenn gesprochen wird, tut es meist weh, „ich wollte mich von allen ficken lassen“, brüllt die aus Berlin kommende Tochter, die vor den Folgen eines von ihr verursachten Unfalls in die Heimat geflohen ist, ihren Vater an.Generationen-ClashTradition und Moderne prallen auch in Milena Aboyans Elaha folgenschwer und in Sophia Mocorreas El secuestro de la novia tragikomisch aufeinander. „Der Eingriff sollte so sieben Wochen vor dem Geschlechtsakt passieren“, erklärt eine Ärztin der 22-jährigen Elaha. Die Deutsch-Kurdin steht kurz vor der Hochzeit und will ihr Jungfernhäutchen chirurgisch rekonstruieren lassen. Aus nächster Nähe blickt Aboyan auf ihre von Bayan Layla großartig verkörperte Heldin und beleuchtet deren innerliche Zerrissenheit in ihrer ganzen Komplexität und Konsequenz. Man wartet darauf, dass die junge Frau ausbricht, und versteht dennoch ihr von archaischen Traditionen beeinflusstes Handeln.Mocorreas mittellanger Film El secuestro de la novia bringt seine beiden Held:innen auf der eigenen Hochzeit an Grenzen. Ein junges, gender-offen lebendes Paar wird mit den Gepflogenheiten und Ritualen der deutschen und argentinischen Eltern konfrontiert: ungewollte Hochzeitskleider und eine Brautentführung, bei der die Dorfpolizei eine ekelige Rolle spielt.Ins Dorf verschlägt es auch Tanja Egen in ihrer größtenteils mit Laien inszenierten Tragikomödie Geranien. Es geht um eine junge kosmopolite Frau, die zur Beerdigung der Oma in den Heimatort im Ruhrpott zurückkehrt und mit der eigenen Mutter und der Vergangenheit konfrontiert wird. Wahrhaftig ist jener Moment, in dem eine alte Freundin betrunken über die Arroganz der Städter:innen gegenüber der Landbevölkerung wettert.Durchweg geht es um gegenwärtige Themen: Tradition versus Moderne, systemische Gewalt, Klimawandel, sexuelle und individuelle Freiheit und mentale Gesundheit. Letzteres hat Lukas Röder in seinen mittellangen Film Langer Langer Kuss gegossen, der emotional aufgeladen von einem Mann erzählt, der sich nicht mehr die Zähne putzen will, weil sich die Erinnerungen an den Exfreund quasi körperlich eingeschrieben haben.Vom Auseinanderleben handelt auch Fabian Stumms Knochen und Namen, in dem der Regisseur schafft, was im deutschen Film selten so gut gelingt: mit Humor und doppeltem Boden von eigentlich schweren Themen zu erzählen. Der Sound seines Films wird gleich in der ersten Szene gesetzt, wenn der von Stumm selbst gespielte Schauspieler und sein langjähriger Lebenspartner (Knut Berger) darüber streiten, ob ersterer in einem Film Nacktszenen spielen darf. „Also ich würde mich jedenfalls nicht full frontal vor ’ne Kamera stellen“, sagt der Schauspieler, bevor er selbst komplett nackt an der Kamera vorbeiläuft.Knochen und Namen ist ein herrlicher, so witziger wie ernster Film, der in Miniaturen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe erzählt – und dabei zugleich eine hintersinnige Reflexion über das Erzählen selbst darstellt.