Marzipan statt Singvogel: Woke Küche seit 1876

Kolumne Ernährung ist zum Politikum geworden. Ganz nach dem Motto: „Sag mir, was du isst und ich sage dir, wer du bist“, identifizieren wir uns über unsere Essgewohnheiten. Eine Entwicklung unserer Zeit ist das aber überhaupt nicht
Ausgabe 19/2024
Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde dieser Singvogel genüsslich verspeist: die „Leipziger Lerche“
Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde dieser Singvogel genüsslich verspeist: die „Leipziger Lerche“

Foto: picture alliance/Blickwinkel/W. Pattyn

Der Fleischereifachverkäufer der Metzgerei in meiner Nachbarschaft trägt neuerdings eine Schürze mit der Aufschrift: „Vegetarisch ist indianisch und heißt: zu blöd zum Jagen.“ Das ist nicht nur aus einer indigenen Perspektive eine fragwürdige Botschaft, sondern außerdem ein marketingtechnisches Missverständnis. Denn die Damen und Herren, die vor der Theke stehen und bereits sehnsüchtig grobe Leberwurst, frisch gebratene Frikadelle und feinstes Rinderfilet betrachten, gehören ja offenkundig nicht zu denen, die das Fleisch verachten. Sie sind hier – wie ich –, weil sie zumindest gelegentlich gerne Fleisch verzehren.

In der Informatik würde man in diesem Fall von einem sogenannten Zirkelbezug sprechen, bei dem eine Referenz auf ein dahinterliegendes Objekt verweist und somit eine geschlossene Schleife entsteht. Vielleicht stärkt es aber auch einfach die Bindung der anwesenden Bevölkerungsteile, soweit die lesefähig sind.

Denn wir leben in Zeiten, in denen die Mäßigung in öffentlichen Äußerungen nur bedingt Konjunktur hat. Am besten immer feste druff, das kommt bei der potenziellen Kund- wie Wählerschaft gut an. Wenn andere sich vegetarisch ernähren möchten, ist das nicht mehr nur ihre Sache, sondern muss lauthals auf der Berufsbekleidung kommentiert werden. Man kann doch nicht einfach kein Fleisch mehr essen. Wo kommen wir denn dann hin? Wenn dann auch noch Klimakrise oder Tierwohl dazukommen, ist der Ofen aber ganz aus.

Dass es aber auch anders gehen kann, erlebte ich in der vergangenen Woche ausgerechnet in – Sachsen! Denn in Leipzig gab es einmal eine lokale Geflügelspezialität, deren Produktion und Verzehr man per Dekret und aus Gründen des Artenschutzes eingestellt hat. Stattdessen konnte man den Markt mit einer vegetarischen und ethisch bedenkenlosen Alternative bequem wieder aufrollen. Ohne dass der Absatz eingebrochen oder das Selbstwertgefühl für immer verloren gegangen wäre.

Die Rede ist hier von der „Leipziger Lerche“, die noch bis weit ins 19. Jahrhundert im großen Stil auf den Feldern und um die Stadt erlegt wurde. Herzhaft gewürzt, zu Pasteten verarbeitet wurde sie vor Ort verzehrt – und auch in alle Welt verschickt. 1876 wurde der Fang des Singvogels dann verboten, „aufgrund von Überjagung und wachsendem Bewusstsein für Tierschutz“, wie es in der Speisekarte einer örtlichen Traditionskonditorei heißt. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen! Erlassen wurde das entsprechende Gesetz übrigens von König Albert von Sachsen, dessen Regentschaft ansonsten zwar ein wenig blass erscheint, der aber keinesfalls als „Verbotskönig“ in die Geschichte eingegangen ist.

Der Überlieferung nach dauerte es mit der Einstellung des Lerchenverzehrs noch eine Weile – die Veränderungen von Speisegewohnheiten sind mitunter eine zähe Angelegenheit. Um 1900 dann taucht erstmals ein gleichnamiges Makronentörtchen auf. Es ist bis auf den heutigen Tag mit Marzipan und Marmelade gefüllt, und nur die über Kreuz gelegten Teigriemchen auf der Oberseite erinnern an die ursprünglich mit einer Schnur für die Verschickung zurechtgemachten Vögel.

Wer weiß, vielleicht werden in einigen Generationen auch bayerische Konditor*innen mit einem veganen Feingebäck der längst verblassten Weißwursttradition gedenken.

Der Koch

Johannes J. Arens ist Journalist und Autor. Er studierte Design in Maastricht und Kulturanthropologie in Bonn. In den Küchen interessieren ihn besonders das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation sowie der Zusammenhang von Essen, Politik und Gesellschaft. Er ist Herausgeber des Foodmagazins „Zwischengang“ und Initiator des „Food Reading Festivals Cologne“. Im Freitag schreibt er die monatliche Kolumne „Der Koch

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