Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin: Überhaupt kein Gefühl mehr dafür
Demokratiegefährdung Dritte Wahl in zweieinhalb Jahren: Berlin wiederholt am 11. Februar 2024 teilweise die Bundestagswahl von 2021. Wie will man da noch mobilisieren? Unterwegs mit Kandidatinnen von Grünen, SPD und CDU, die es trotz allem versuchen
Wer weiß die fünf Grundsätze des Wahlrechts in Deutschland? Hoffentlich die Verantwortlichen für die Wiederholungswahl in Berlin! Allgemein, unmittelbar, frei, gleich – und geheim.
Foto: Christian Ditsch/Imago Images
Im Schneetreiben steht sie am Antonplatz in Berlin-Weißensee und ragt in die Höhe, der klirrend kalte Wind bläst ihr ins Gesicht. Sie flattert wild von links nach rechts, bewegt sich aber keinen Meter. „Bündnis 90/Die Grünen“ steht auf dem grünen Stoff der Fahne, unter ihr steht Stefan Gelbhaar, eingepackt in Mütze, Schal und Handschuhe. Gelbhaar verteilt Flyer mit seinem eigenen Foto, „Erststimme Stefan Gelbhaar“. Er ist Kandidat für eine Wahl, die vor mehr als zwei Jahren stattgefunden hat. Und in Teilen Berlins nun erneut ausgetragen wird. Nur dass dieses Mal alles anders ist.
Vor zweieinhalb Jahren, am 26. September 2021, hatte Berlin zugleich Bundestags- und Abgeordnetenhauswahlen abgehalten. Und das mehr schlecht als rech
, am 26. September 2021, hatte Berlin zugleich Bundestags- und Abgeordnetenhauswahlen abgehalten. Und das mehr schlecht als recht: Chaos, schlechte Organisation, dazu noch eine Marathonveranstaltung am selben Tag – das führte in manchen Wahlkreisen zu langen Schlangen, fehlenden oder falschen Stimmzetteln und dazu, dass Menschen vor verschlossenen Wahllokalen standen. Gut zwei Jahre später, am 19. Dezember 2023, beschließt das Bundesverfassungsgericht: In 455 Berliner Wahlbezirken muss die Bundestagswahl wiederholt werden. Mehr als 550.000 Bürger:innen dürfen, sollen oder müssen am 11. Februar 2024 erneut an die Urne.Seitdem sind Gelbhaar und sein Team im Wahlkampfmodus. Viel Zeit zur Vorbereitung blieb ihnen nicht. Ein „gestauchter Wahlkampf“, sagt der Grünen-Politiker. Die Flyer erstellte das Team in wenigen Tagen. Darauf wirbt Gelbhaar mit seinen bisherigen Erfolgen in zwei Jahren Ampel-Koalition und damit, was er bis zum Ende der Legislaturperiode noch alles erreichen möchte. „Es ist ja eine Wahl ohne richtiges Parteiprogramm“, meint Gelbhaar.Im Nordberliner Bezirk Pankow, wo der Grüne 2021 das Direktmandat gewonnen hat, sollen rund 84 Prozent der Wählerschaft erneut abstimmen. Es ist einer von vier Berliner Wahlkreisen, in denen das Direktmandat durch die Wiederholungswahl in die Hände einer anderen Partei fallen könnte. Um seinen Bundestagssitz bangen muss Gelbhaar trotzdem nicht. Die Landesliste sichert ihn ab. Aber ihm ist ein Sieg wichtig. „Es ist das erste grüne ostdeutsche Direktmandat. Das wollen wir auf jeden Fall behalten.“ Außerdem ist die Wahl auch ein wichtiges Symbol und ein Stimmungstest mit Blick auf die Europawahl im Juni.Weit hinter Gregor GysiBei Ana-Maria Trăsnea geht es nicht nur um Symbole. Das Direktmandat kann die Politikerin der SPD in ihrem Wahlkreis Treptow-Köpenick zwar nicht gewinnen – der Abstand zum Sieger Gregor Gysi von der Linkspartei ist zu groß. Die Sozialdemokratin ist aber die Letzte ihrer Partei auf der Landesliste, die es in den Bundestag schaffte. Wenn jetzt zu wenige Menschen ihre Zweitstimme für die SPD abgeben, verliert sie ihr Mandat.Dabei ist sie gerade erst in den Bundestag gerutscht. Im vergangenen Jahr musste ja auch das Berliner Abgeordnetenhaus neu gewählt werden – ebenfalls aufgrund der Pannen aus dem Jahr 2021. Weil die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe Senatorin in der neuen Berliner Landesregierung wurde, übernahm Trăsnea als Nachrückerin ihr Mandat. Noch nicht einmal ein Jahr sitzt sie im Bundestag, wenn am 11. Februar über ihre politische Zukunft entschieden wird.Wer in Berlin diesmal wählen darfAn einem Samstagmorgen steht die Politikerin vor der U-Bahn-Station Südstern. Vom nahe gelegenen Markt weht der Geruch von Crêpes herüber. Mit Flyern und Kugelschreibern in der Hand spricht sie vorbeigehende Menschen an, macht auf sich aufmerksam. Die meisten reagieren freundlich, einige lehnen dankend ab oder nehmen die Prospekte im Vorbeigehen mit. Das, erzählt Trăsnea, war in den vergangenen Wochen nicht immer so. „Gerade am Anfang war die Stimmung uns gegenüber oft aggressiv.“ In Umfragen schneidet die SPD im Moment schlecht ab. Auch bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin kassierte die Partei vergangenes Jahr eine Schlappe, verlor den Posten der Regierenden Bürgermeisterin an die CDU und entschied sich für die Rolle als deren Juniorpartner in einer Koalition. „Ich bin positiv überrascht heute“, sagt Trăsnea.Nicht nur die politischen Verhältnisse, auch das Wahlregister ist heute anders als 2021. Wählen dürfen nämlich all jene Stimmberechtigten, die zum 31. Dezember 2023 in einem Bezirk lebten, in dem neu gewählt wird. Wer seit der Wahl aus einem Bezirk weggezogen ist, der nun neu wählt, ist raus. Wer aus einem Bezirk, in dem nicht neu gewählt wird, in einen Bezirk gezogen ist, in dem neu gewählt wird, wählt zum zweiten Mal. Menschen, die seit der fehlerhaften Wahl volljährig geworden sind, kommen ebenfalls zum Zug.Weil Trasnea ihr Direktmandat sowieso nicht gewinnen kann, macht sie nicht nur im eigenen Wahlkreis, sondern in ganz Berlin Wahlkampf. Ziel der Politikerin: möglichst viele Menschen zu einer Zweitstimme für die SPD bewegen. Nicht nur das: „Es geht auch darum, die Menschen überhaupt erst mal zur Wahl zu motivieren. Hauptsache, für irgendeine demokratische Partei.“Eine niedrige Wahlbeteiligung sei das „größte Problem bei der bevorstehenden Wahl“, sagt auch Landeswahlleiter Stephan Bröchler. Es ist die dritte Wahl in zweieinhalb Jahren in Berlin, eine Zumutung nicht nur für demokratiemüde Menschen. Und verwirrend allemal. Dazu kommt, dass die Wahl am 11. Februar stattfindet, dem letzten Tag der Winterferien in den Berliner Schulen. Viele Familien würden wohl erst am Wahltag aus dem Urlaub zurückkommen, sagt Bröchler.Ana-Maria Trăsnea rückte vor weniger als einem Jahr in den Bundestag nach. Jetzt könnte sie schon wieder rausfliegenEs ist das Berliner Paradox: Die Wiederholungswahl findet statt, um dem Souverän, den Wählern, zu ihrem Wahlrecht zu verhelfen. Aber so, wie die Wahl abläuft, droht sie bei niedriger Beteiligung ihren Sinn zu verfehlen. Und nicht nur das. Wenn weniger Menschen wählen als 2021, könnte sich auch die Verteilung der Sitze im Bundestag verändern. Berlin wäre weniger stark repräsentiert. Auch dadurch könnte das Mandat von Trăsnea verloren gehen. In anderen Bundesländern könnte ein neues Bundestagsmandat entstehen.Die Chancen, dass Trăsnea im Bundestag bleibt, rechnet sie sich mit „fifty-fifty“ aus. Was wäre, wenn sie aus dem Bundestag fliegt? „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, ich setze alles auf Plan A.“ Erstmal wäre sie aber arbeitslos.„Danke für die Infos, aber ich bin gar nicht wahlberechtigt“, sagt eine junge Frau, der Trăsnea den Flyer hinhält. Das hört sie oft. Auf der Straße überhaupt erst mal die Menschen zu erreichen, die auch tatsächlich zur Wahl aufgerufen sind, sei nicht so leicht. In ihrem eigenen Wahlkreis sind es beispielsweise nur 7.650 von etwas mehr als 200.000 Menschen.Aus diesem Grund hat sich der Landeswahlleiter eine PR-Kampagne einfallen lassen. Verschiedene Promis wenden sich in kurzen Videos an die Berliner:innen und rufen zur Wahl auf, Popsänger Tim Bendzko ist auch dabei. „Berlin braucht deine Stimme!“ Hochgeladen wurden die Clips unter anderem auf dem Instagram-Kanal des Landeswahlleiters, der Anfang Februar 18 Abonnenten zählt. Neun Likes hat das Video nach einem Tag. Andere Videos, etwa von der Journalistin Hadnet Tesfai, haben auch nach drei Tagen erst acht Likes.Eingebetteter MedieninhaltMonika Grütters von der CDU hat sich eine andere Taktik überlegt, um den Souverän zu erwischen. Sie steht an einem Freitagabend in einem Wohnviertel in Reinickendorf. An einem kleinen Stand brät ein Kollege Würstchen, in einer großen Thermoskanne duftet Glühwein. Eine Handvoll CDUler ist gekommen, man unterhält sich munter. Nur die Menschen, die man eigentlich erreichen wollte, kommen nicht. „Hallo, wollen Sie sich nicht auf eine Wurst zu uns stellen?“, ruft Grütters einer Frau zu, die gerade mit ihrem Hund Gassi geht. Die schüttelt den Kopf, lächelt verlegen und geht dann schnell weiter. 500 Einladungen habe man in die Briefkästen in der Nachbarschaft geworfen. Zwei Menschen erscheinen im Verlauf des Abends.Monika Grütters gewann in Reinickendorf sehr knappDie ehemalige Kulturstaatsministerin Grütters hat in Reinickendorf 2021 nur knapp das Direktmandat gewonnen. Ungefähr 1.800 Erststimmen trennten sie von ihrem Gegner Torsten Einstmann von der SPD. Wäre die Wahl 2021 reibungslos abgelaufen, hätte Einstmann vielleicht gewonnen, so ein Bericht des Bundestages. Damals lag die SPD vor der CDU. Jetzt haben sich die Verhältnisse geändert.„Ich spüre auf der Straße viel Rückenwind für die CDU“, sagt Grütters. Aber die meisten der Menschen, die sie trifft, sind gar nicht wahlberechtigt. Grütters steht mit ihren Kolleg:innen am Stand und wirkt ein bisschen ratlos. „Stellt man sich dahin, wo viele Menschen sind, trifft man nur zufällig mal einen, der auch wirklich wählen darf. Jetzt sind wir mal an einem Ort, wo die Menschen alle wählen dürfen, und das funktioniert auch nicht.“Nach zwei Stunden sind die Würstchen aufgegessen, die Sonne ist längst untergegangen, und auch der Glühwein neigt sich dem Ende zu. Grütters macht noch ein Pressefoto vor dem Grill, dann geht es zum nächsten Termin. Was für Chancen sich die CDUlerin ausrechnet? „Das ist jetzt schon der neunte Wahlgang in meiner Karriere“, sagt sie. „Aber dieses Mal habe ich wirklich überhaupt kein Gefühl dafür, wie die Wahl ausgeht.“
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