Wiederholungswahl in Berlin: Souverän mit Pannen umgehen

Meinung Das Bundesverfassungsgericht hat geprüft und für ungut befunden. In Berlin muss jeder fünfte Wahlbezirk nochmal über den Bundestag abstimmen. Diesmal hoffentlich mit souveräner Vorbereitung
Doris König, Vizepräsidentin des Zweiten Senats, verliest das Karlsruher Urteil zur Bundestagswahl 2021 in Berlin
Doris König, Vizepräsidentin des Zweiten Senats, verliest das Karlsruher Urteil zur Bundestagswahl 2021 in Berlin

Foto: Uwe Anspach/picture alliance/dpa

Wäre man souverän, müsste man jetzt die 2021-Ergebnisse aller betroffenen Berliner Bundestagswahlbezirke untersuchen, dann spekulieren, was vielleicht am Wahlwiederholungstag 2024 passieren könnte – und wie man, wenn man laut Judikative zu den glücklichen Wiederwählern gehört, klügstenfalls wählt.

Wäre man souverän, könnte man die Statistik befragen, wie viele Altwähler mittlerweile gestorben und wie viele Jungwähler am – wenige Stunden nach dem Urteil rasant festgelegten – Wahltag 11. Februar 2024 alt genug zum Mitwählen sind, und ob sich das ausgeht, wie die Österreicherin dialekteln würde. Die hat aber nicht mitzureden in Berlin, die soll sich mal dialektisch um ihre eigenen Wahlfehler kümmern.

Wählen heißt auch: organisieren können

Wäre man souverän, sollte man außerdem die ziemlich umfangreiche Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts, betreffend „Urteil vom 19. Dezember 2023 - 2 BvC 4/23“, Überschrift „Die Bundestagswahl muss in 455 von 2.256 Wahlbezirken des Landes Berlin wiederholt werden“, lesen, nein: studieren! Um anhand der Juristenprosa en détail den so genannten Sachverhalt nachvollziehen zu können, was wann wo durch wen passiert oder nicht passiert ist – und was stattdessen hätte nicht passieren, sondern organisiert werden müssen. Genügend Wahlkabinen zum Beispiel. Oder die richtigen Stimmzettel für die richtigen Wähler.

Wäre man souverän, müsste man also wie eine Detektivin der Exekutive jedes gerichtlich genannte „Indiz für Wahlfehler“ erwägen – „überlange Wartezeiten“, „Stimmabgabe um 18:31 Uhr“, „Stimmabgabe nicht vor 8:59 Uhr beziehungsweise 8:55 Uhr“, „Unterbrechung der Wahlhandlung“ undsoweiter.

Wäre man souverän, könnte man noch ausrechnen, wie viel Prozent von Wahl und Wählern betroffen sind – gesamtdeutsch gesehen, und hauptstadtspezifisch. Dann die Legislative, den Bundestag, rügen, der „zur Gewährleistung einer bestmöglichen Sachaufklärung verpflichtet gewesen“ wäre, „die Niederschriften der einzelnen Wahlbezirke beizuziehen und auszuwerten“. Dies aber unterlassen hat. Weshalb die Richter ran mussten – kein beneidenswerter Job.

Demokratie funktioniert auch, wo sie nicht funktioniert

Wäre man souverän, hätte man also jede Menge zu tun, für das in der Vorweihnachtszeit die Zeit fehlt. Stattdessen freut man sich über einen Rechtsstaat, in dem allen rechtspopulären Unkenrufen zum Trotz die Demokratie sogar da funktioniert, wo sie nicht funktioniert. Und ein bisschen über die Ohrfeige für die Klägerin CDU, die den Mund nach dem Bundestagsbeschluss zur Wiederwahl so voll nahm, dass sie jetzt eigentlich ausspucken müsste. Zumal die Ampel-Regierung von der örtlichen Wiederholung ebensowenig bedroht scheint wie die Linkspartei. Eher ist die CDU-Direktkandidatin in Berlin-Reinickendorf, Monika Grütters, in Bedrängnis – von Torsten Einstmann (SPD) trennten sie damals 1,4 Prozentpunkte.

Als Souverän findet man es zudem mehr als bedauerlich, dass nicht auch bei der OB-Wahl in Pirna ein paar Pannen passiert sind – also außer der nicht justiziablen Großpanne, dass fast die Hälfte des dortigen Souveräns unsouverän nichtwählerisch-passiv-aggressiv, der anderen Hälfte ermöglichte, einen von rechtsaußen gestellten Politiker an die Spitze der sächsischen Stadt zu stellen. Aber das ist kein Verfassungs-, höchstens ein Tabubruch.

Wäre man souverän, würde man also nicht rechten, sondern nach dem Rechten sehen. Als man jedoch anhand einer souveränen Supergrafik des rbb – ein Hoch auf die vierte Gewalt, den öffentlich-rechtlichen Lokalfunk! – herausfindet, dass der eigene Wahlbezirk betroffen ist, reicht die Kraft nur noch für eine Kurznachricht an die mittlerweile wahlmündigen Söhne: „Diesmal dürft ihr!“ Sie gehören jetzt zum Souverän, und dem bleibt dringend zu raten, dass er nicht kindisch zuhause bleibt, sondern, erwachsen, sein Wahlrecht als Bürgerpflicht wahrnimmt, notfalls auch wiederholt, notfalls auch im Februarregen, notfalls auch vorm Wartelokal – je länger die Schlange, desto souveräner.

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Geschrieben von

Katharina Körting

Freie Autorin und Journalistin

2024 Arbeitsstipendiatin für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Katharina Körting

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