Wer gerade Jacques Ellul »liest, muss auch das lesen, dachte JR heute mittag, und kaufte sich die wohl erste Print-Ausgabe der "Zeit" im Jahr 2015.
Denkste. Die erste und einleitende Rate jedenfalls - mit insgesamt drei Beiträgen auf den Seiten 8 bis 11 - enttäuscht. Nicht, dass zum Beispiel der einleitende Artikel der heutigen Ausgabe zum Thema "Wahrheit und Propaganda" - auf Seite 8 - faktenfrei wäre. Aber das Gesamtbild, das er vermittelt, ist nicht der, dass der Journalismus große Probleme hätte, sondern dass das Publikum ein großes Problem habe, aus dem wiederum die Probleme des Journalismus resultierten. Die Botschaft eines unbekannten, aber deutschen Bürgers habe Verstümmlungsfantasien über einen Onlineredakteur der "Zeit" enthalten, über dessen Putin-Artikel er sich geärgert habe, empört sich der "Zeit"-Autor.
Eine ZDF-Journalistin sei als "Hetzfresse" bezeichnet worden. Und besonders schlimm traf es eine ARD-Korrespondentin, mit Aussagen wie "diese Frau ist ekelhaft", eine "widerliche Propagandapuppe" oder "politische Kotze". Wahr ist, dass bestimmte Dinge kein Mensch sagen würde, der über ein gewisses Maß an Ehrgefühl verfügt.
Aber wahr ist auch, dass solche Publikumsäußerungen nicht glaubwürdigkeitsgefährdend für die Presse sind - im Gegenteil. Darum werden Sie von der "Zeit" ja so ausführlich zitiert. Und ebenso andere Faktoren, die angeblich verantwortlich sein sollen: satirische Fernsehshows z. B., die zu TV-Schwergewichtern geworden seien, mit Einschaltquoten wie die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen.
Was bei der Presse schiefläuft, sind hingegen eher so etwas wie ärgerliche Einzelfälle, so der Tenor des Artikels, der obendrein noch die Anregung enthält, "alle Akteure der fünften Gewalt" - also diejenigen, die sich auf den digitalen Plattformen tummeln und von denen man hoffe, sie könnten eine neue Kontrollinstanz bilden -, sollten sich ihrer Verantwortung stellen und zum Beispiel
neu über Anonymität im öffentlichen Diskurs nach[zu]denken. Sie war in den frühen Zeiten des Internets vielleicht richtig, so konnte jeder Mensch ausprobieren, wie es ist, sich im öffentlichen Raum zu äußern. Aber das ist lange her, und die Anonymität entfaltet heute vor allem eine zerstörerische Wirkung. Deshalb ist es an der Zeit, dafür zu sorgen, dass alle Akteure der fünften Gewalt im öffentlichen Diskurs ihr Gesicht zeigen.
Gerade sollte man darüber noch nachdenken. Drei Sätze weiter soll man bereits dafür sorgen. Das geht verdächtig schnell. Es ist ein Fehlschluss - oder ein Ablenkungsmanöver von Problemen, die der Journalismus hat.
Es mag angebracht sein, dass derjenige, der sich mit seinen Artikeln seinen Lebensunterhalt (oder einen Teil davon) verdient, diese auch namentlich zeichnet. Wer aber einen ganz anderen Beruf ausübt als den des Journalisten, der soll auch die Option der Anonymität haben.
Vielleicht wäre mancher Journalist ebenfalls ganz glücklich - und obendrein ein besserer Journalist -, wenn sein Chef ihm seine Artikel nicht namentlich zuordnen könnte. Dann aber sollen die Redaktionen über ihre eigene Möglichkeiten zur Anonymität nachdenken, und der so genannten "5. Gewalt" deren (ohnehin nur relative) Anonymität nicht neiden.
Offenbar war der hier in Rede stehende Artikel eine Zeitlang online - Google "findet" ihn noch, leitet aber auf einen 404-Fehler um.
Update: wieder online, seit dem 26.06.15
presseverein.ch geht auf den "Zeit"-Artikel ein, und auf zwei weitere Artikel zum Thema, ebenfalls in der heutigen "Zeit"-Ausgabe.
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