Die Geschichte des Kannibalismus ist eine Geschichte der Missverständnisse. So war erst unlängst zu erfahren, dass in Kenia ein fast anderthalb Millionen Jahre altes Schienbein gefunden wurde, das entsprechende Spuren aufweist. Der Knochen trägt keine Gebissspuren, die man auch Tieren zuordnen könnte, stattdessen wurde er mit einem spitzen Stein abgeschabt. Ein Hinweis darauf, dass schon die Vorfahren des Homo sapiens in der Not ihresgleichen gegessen haben. Damals eine Geschmacksfrage, die in der Gegenwart ganz andere Fragen aufwirft: Fraßen sich die Kannibalen auch gegenseitig? Wenn ja, durfte man auch Verwandte verspeisen? Aber vor allem: Lebten die Kannibalen vegetarisch, wenn sie in ihrem Alltag keine Tiere aßen?
Eine Art spirituellen Kannibalismus kennt auch die Kirche. Beim Abendmahl kommen Christen zusammen und teilen Wein und Oblaten, in denen angeblich der Heilige Geist steckt oder Jesus, der gesagt haben soll: „Dies ist mein Leib“, und: „Dies ist mein Blut.“ Glauben wir aber der christlichen Theologie, so kommen Kannibalen grundsätzlich nicht in den Himmel. Einmal abgesehen von der buchstäblichen Todsünde kennt die Heilige Schrift auch keinen Kannibalismus aus Notwehr. Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ inkludiert den Gedanken: Du sollst nicht essen, jedenfalls keinen anderen Menschen.
Auferstehung unmöglich
Hinzu kommt ein konkret eschatologischer Aspekt. Schon nach frühkirchlichem Verständnis ist die Auferstehung eines verstorbenen Kannibalen technisch gar nicht möglich. Am jüngsten Tag, wenn die Seelen der Menschen vom Allerhöchsten ihre ursprünglichen Körper zurückerhalten (und das wird so sein, ganz sicher!), werden die Menschenfresser leer ausgehen, also nicht mal dumm dastehen. Schlimmer noch: Kannibal*innen werden einfach nicht dabei sein an Gottes reich gedeckter Tafel, weil sie am Ende der Welt nicht existent sein werden! Ihre leibliche Hülle hat zu Lebzeiten de facto nur aus den Körpern anderer Menschen bestanden. Will heißen: Regelmäßiger Kannibalismus gefährdet Ihr Seelenheil! Überlegen Sie es sich gut!
Aber es gibt auch Schlimmeres. Menschen haben einander schon ganz andere Grausamkeiten angetan. Bei Montaigne findet sich eine Episode, in der ein Kannibale zu einem Europäer sagt: „Ihr tötet mehr Menschen, als man essen kann. Das ist doch Verschwendung.“
Der Kapitalismus frisst sich
Überhaupt kannibalisiert sich der Kapitalismus gerade selbst. Die Philosophin Nancy Fraser schrieb dazu kürzlich in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Sie verglich dabei das kapitalistische System, dem wir die gegenwärtige globale Krise verdanken, mit dem berühmten Ouroboros, dem schon im alten Ägypten belegten Bildsymbol einer Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst. „Offen gesagt handelt es sich um eine seltene Art von Krise, in der mehrere Fressanfälle zusammentreffen.“
Wir würden nicht nur eine Krise der grassierenden Ungleichheit erleben, der prekären Niedriglohnarbeit, nicht „bloß“ eine Krise der Fürsorge und der sozialen Reproduktion und schon gar nicht der Migration und der rassistischen Gewalt. Auch handle es sich nicht „nur“ um eine ökologische Krise, bei der ein sich aufheizender Planet tödliche Seuchen ausspuckt, und auch nicht „nur“ um eine politische Krise, die sich durch einen verstärkten Militarismus auszeichne und dadurch, dass überall auf der Welt Politiker Erfolg haben, die sich als starke Männer gerieren. Es sei viel schlimmer: „Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Katastrophen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen.“ Der Kapitalismus frisst sich selbst. Wie Fraser sagt, eigentlich eine gute Zeit für Utopien.
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