Freiwillige Feuerwehr in Deutschland: Es brennt nicht nur an Silvester
Ehrenamt Eine Million Freiwillige in Deutschland retten, löschen, bergen, schützen – und Tausende davon werden angegriffen. Dennoch ist der Zulauf nach den Waldbränden und der Ahrtal-Flut groß
„Bei der Feuerwehr arbeitet niemand allein“, sagt Matthias Münch, 55, vom Landesfeuerwehrverband Berlin, im ehrenamtlichen Einsatzdienst seit 37 Jahren, mindestens zu zweit sei man immer im Einsatz.
Illustration: Rahel Suesskind
Als wäre er nicht Kapitän der Fußballnationalmannschaft, sondern Feuerwehrmann: Erst wenn jeder technisch und taktisch im kleinsten Detail korrekte Arbeit leiste und sich im Team füreinander aufopfere, sagt İlkay Gündoğan in einem Interview, entstehe ein Miteinander – und Vertrauen. Was für die Nationalelf wie eine ferne Utopie klingt, ist Realität beim „Retten, Löschen, Bergen, Schützen“.
Hier steht aber kein Ball auf dem Spiel, sondern Leben. „Es ist eine gemeinschaftliche Angelegenheit, man muss ein Urvertrauen in die anderen haben“, sagt Matthias Münch, 55, Landesfeuerwehrverband Berlin, im ehrenamtlichen Einsatzdienst seit 37 Jahren. „Ein Feuerwehreinsatz ist wie ein Getriebe, wie ein Uhrwer
erband Berlin, im ehrenamtlichen Einsatzdienst seit 37 Jahren. „Ein Feuerwehreinsatz ist wie ein Getriebe, wie ein Uhrwerk, wenn ein Zahnrädchen klemmt, kann der ganze Einsatz klemmen.“ Und wenn es in der Gesamtgesellschaft „klemmt“, da ganz andere, soziale Brände nicht gelöscht sind, werden Feuerwehreinsätze zur Bedrohung. „Wir schauen uns zu wenig an“, sagt Gündoğan über sein Team, das sei ein „Spiegelbild der Gesellschaft“.Barrikaden, Hinterhalte, verletzte RettungskräfteMatthias Münch blickt beunruhigt auf die kommende Silvesternacht. In der vergangenen gab es Barrikaden, Hinterhalte und verletzte Feuerwehrleute nicht nur in Berlin-Neukölln. Auch Ehrenamtliche geraten zunehmend ins Visier jugendlicher Randalierer, die Corona- und Armutsfrust ausgerechnet bei der Feuerwehr abladen. 80.000 Attacken auf Einsatzkräfte gab es im vergangenen Jahr, davon betrafen 1.000 die Feuerwehr. Berlin zählte 650 Übergriffe auf Feuerwehrleute und fast 2.000 gegen andere Rettungskräfte. Das zielt auf „den Staat“ – und trifft Lebensretter. Warum?„Ich kenne die Erklärungsmuster nicht, warum das so eskaliert“, sagt Münch, „der Staat sind doch wir alle!“ Von Schuldzuschreibung an bestimmte Gruppen hält er nichts: „Wir hatten in der Silvesternacht auch junge Leute mit Migrationshintergrund, die sich bei uns nach dem Einsatz dafür bedankt haben, dass wir tätig sind!“Das ist kein HobbySein Ehrenamt will Matthias Münch nicht als Hobby verstanden wissen – „das ist eine Aufgabe fürs Leben“. Die Grundausbildung der Freiwilligen Feuerwehr in Berlin umfasse 400 Stunden. Es dauere mindestens zwei Jahre, bis eine neue Kraft „selbstständig laufen kann“, etwa um die hydraulische Rettungsschere bei einem Verkehrsunfall richtig anzuwenden oder Risiken im Brandeinsatz selbst zu erkennen. Das Ganze sei eine Aufgabe mit „jeder Menge Rechte und Pflichten“. Die Freiwilligen unterliegen in Berlin demselben Feuerwehrgesetz wie die Hauptamtlichen. Sie sind zur besonderen Verschwiegenheit verpflichtet. Geld oder Freikarten, Geschenke zum Dank, dürfen sie nicht annehmen.Die Angehörigen der verschiedenen 59 Freiwilligen Feuerwehren in Berlin fahren zwischen 100 und 1.000 Einsätze im Jahr. Arbeitgeber müssen die freiwilligen Retter für den Einsatz freistellen. Ihren Pieper haben diese deshalb immer dabei. Tagsüber am Gürtel, nachts neben dem Bett. Die Unbedingtheit, die darin liegt, spüren bereits kleine Kinder. Die Feuerwehr scheint allgegenwärtig, allmächtig, absolut verlässlich. 112 ist oft die erste auswendig gelernte Telefonnummer. Im Gegensatz zur Polizei wirkt die Feuerwehr auch moralisch unangreifbar, da sie weder bedroht noch bestraft. „Helfende Hände schlagen nicht“, sagt Karl-Heinz Banse, der Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes.Katastrophenfall MietenkriseHistorisch ist der freiwillige Dienst in der Feuerwehr nicht zuletzt durch das christliche Gebot der Nächstenliebe motiviert. „Gott zur Ehr, dem Nächsten zur Wehr“ bleibt auch für den Berliner Verband der Wahlspruch. „Die Feuerwehrangehörigen helfen Menschen in Not“, sagt Münch, „ohne Ansehen von Person, Geschlecht, politischer Einstellung, Religion, Charakter.“ Auch, zum Beispiel, einem Gewalttäter, der sich bei seiner Straftat selbst verletzt.In Berlin gibt es zwei Typen von Freiwilligen Feuerwehren: Typ A muss binnen vier Minuten nach Alarm ausgerüstet auf dem Fahrzeug sitzen, bereit zum Ausrücken. Angehörige der Typ-B-Wehren müssen nach 30 Minuten einsatzbereit sein. Gerade für die A-Wehren beeinträchtigt die Mietenkrise die Einsatzfähigkeit. „Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum in unmittelbarer Nähe der Wachen“, sagt Münch, sonst gibt es immer weniger Freiwillige, die schnell genug auf der Wache sein können. Zu DDR-Zeiten seien noch Feuerwachen mit Wohnungen gebaut worden, der Mietvertrag war an den Dienst geknüpft.Im Vergleich zu anderen Vereinen sei es „ein ganz besonderes Ehrenamt“, sagt Münch: „Wir haben alle einen kleinen Schaden. Wir gehen ehrenamtlich persönliche Risiken für das Wohl anderer Menschen ein.“ Einen weit größeren Schaden hätte die Gesellschaft, gäbe es die freiwillige Feuerwehr nicht. „Wir haben deutschlandweit über eine Million Feuerwehrleute“, sagt Frank Scholz vom Landesfeuerwehrverband Berlin, davon gut zehn Prozent Frauen. „Raten Sie mal, wie viele Freiwillige dabei sind!“ Mehr, als man denkt: „Bundesweit stehen circa 36.000 Feuerwehrkräfte im Beamtenverhältnis im Dienst, dazu kommen noch 34.000 Angehörige der Betriebs- und Werkfeuerwehren.“ In den Großstädten ist das Verhältnis wegen der höheren Einsatzdichte anders, 5.000 hauptamtliche „Kollegen“ hat Berlin und gut 1.600 „Kameraden“ (davon 178 Kameradinnen). Ohne Freiwillige wären Brandschutz und Rettung auch in der Hauptstadt nicht gewährleistet.„Die Feuerwehr ist die älteste Bürgervereinigung“, erzählt Münch. Es gab die „Türmer“ und „Steiger“, die oft zu den Bessergestellten gehörten: „Die konnten es sich leisten, Sport zu machen.“ Während die einen mit den Leitern auf die Dächer kletterten, sorgten die „Pumper“ am Boden für Wasser – eine „taktische Arbeitsaufteilung“, die es im Prinzip noch heute gibt. „Bei der Feuerwehr arbeitet niemand allein“, sagt Münch, mindestens zu zweit sei man im Einsatz: „Man muss sich absolut aufeinander verlassen können, das eigene Leben kann vom anderen abhängen.“So viel Feuerwehr-Nachwuchs wie nieOhne Freiwillige käme die Rettung deutlich teurer. „Jedes Löschfahrzeug, das nicht durch sechs freiwillige Einsatzkräfte besetzt werden kann, kostet mindestens eine Million Euro pro Jahr Personalkosten“, rechnet Münch vor. In den rund 420 Landkreisen und kreisfreien Städten gibt es 24.000 leistungsfähige freiwillige Feuerwehren. „Außerdem haben wir über 330.000 Kinder und Jugendliche in den 23.000 Jugendfeuerwehren“, sagt Präsident Banse – „so viele wie noch nie“.Trotz oder wegen Angriffen wie diesem, den Münch schildert? Auf ein Löschfahrzeug von Kameraden, unterwegs wegen einer Brandmeldung: „Als es anhielt, stürmten circa 15 bis 20 Vermummte darauf zu. Einer stellte sich vor das Fahrzeug und zielte mit einer Schusswaffe durch die Windschutzscheibe auf die Einsatzkräfte, andere versuchten, die hinteren Fahrzeugtüren zum Innenraum zu öffnen, und wieder andere, die Gerätefächer des Fahrzeuges zu plündern.“ Die Waffe stellte sich als Schreckschusspistole heraus, der Wagen konnte wegfahren. Die Täter habe man nicht gefasst. Andere Kameraden seien mit Eisenstangen und Reizgas angegriffen oder in eine Falle gelockt worden. Manche Familien wollen deshalb nicht mehr, dass ihre Angehörigen zu Silvester ausrücken.„Ich habe keine Idee, wie man das kurzfristig ändern kann“, sagt Münch. Für die mittlere Frist gebe es ja einen guten Anfang: „Kiezgespräche“, das Projekt der mobilen Jugendarbeit „Outreach“: Fußballturniere und Workshops mit Feuerwehrleuten.„Die Arbeit braucht Zeit“, sagt Abdul El Khatib, Straßensozialarbeiter im Outreach-Team Reinickendorf, täglich in Berlin unterwegs, um Zugang zu prekär lebenden Jugendlichen zu finden. „Die Feuerwehrmänner sind auf sie zugegangen, Vertrauen konnte entstehen“, erzählt El Khatib, „mittlerweile schauen sie, wenn eine Feuerwehr vorbeifährt, ob sie jemanden kennen.“ Manche „seiner“ Jungs überlegten jetzt sogar, eine Ausbildung bei der Feuerwehr zu machen. Die Hürden liegen, auch wegen körperlicher Anforderungen, hoch.Wenn sich keiner kümmert„Viele fühlen sich von der Gesellschaft schlecht behandelt, erhalten von Schule und Medien nur negative Aufmerksamkeit“, sagt El Khatib. „Die Feuerwehrleute sind ihnen auf Augenhöhe begegnet, von Mensch zu Mensch.“ Im Grunde seien die Bedürfnisse beider Seiten ja sehr ähnlich: „Wertschätzung und Menschlichkeit.“Wie es um Menschlichkeit in einer individualisierten Gesellschaft bestellt ist, davon erfahren Feuerwehrleute oft mehr, als ihnen lieb ist. Sein „emotional schlimmster Einsatz“, erzählt Matthias Münch, war nachts um drei, als sein Trupp zu einem Mehrfamilienhaus gerufen wurde. „Aus einem Zimmer kam schrecklich laute Musik.“ Mit einer Leiter sei er von außen in die Wohnung eingestiegen und habe, um möglichst wenig Schaden anzurichten, von innen die Tür geöffnet. „Und da lag eine alte Dame, das Gesicht ans Gitter des Bettes gedrückt, im Fernseher lief in voller Lautstärke Sendeschlussmusik.“ Die Fernbedienung war heruntergefallen, die Frau zu kraftlos, um sie aufzuheben oder sich auch nur umzudrehen. Ihr drohte keine Lebensgefahr, sie wurde täglich vom Pflegedienst versorgt. Die Nachbarn hatten die Feuerwehr wegen „Ruhestörung“ alarmiert. Für Münch ist der Fall „symptomatisch, wie wir mit uns und unseren Mitmenschen umgehen, wenn keiner sich kümmert“.Der Zeitgeist: Erst ein Foto machen, dann helfenAus Angst, etwas falsch zu machen, übernähmen viele lieber gar keine Verantwortung. Beispielsweise werden hin und wieder Einsatzkräfte gerufen, „weil es im Treppenhaus so merkwürdig riecht“. Sie finden dann oft einen überquellenden Briefkasten – „und in der Wohnung eine Leiche im Zustand der Verwesung“. Weil sich niemand zuständig fühlt. Diese Mentalität führe auch dazu, dass viele bei Bagatellen die Rettung rufen. Andere machen die Gasse nicht frei, holen stattdessen ihr Telefon hervor. „Es gibt immer mehr Menschen, die erst ein Foto machen und dann helfen – oder gar nicht“, sagt Karl-Heinz Banse.Eine solche Entwicklung hätten sich frühere Feuerwehrleute wohl nicht träumen lassen. Viele Wehren entstanden durch ein sich emanzipierendes Bürgertum rund um die Revolution 1848, als Folge der Abwendung vom Obrigkeitsstaat – und als Ausdruck demokratischer Mitwirkung. Auch damals ging es nicht nur um Rettung, es ging auch um Verantwortung, Gemeinschaft, Zugehörigkeit. Insofern, die gute Nachricht aus der nicht minder krisengeschüttelten Gegenwart: Die freiwillige Feuerwehr kann über Nachwuchs nicht klagen. „Nach den schweren Waldbränden und der Katastrophe im Ahrtal – von 100 Einsatzkräften waren 98 Prozent Freiwillige – haben wir Zulauf“, sagt Banse. Sorgen macht er sich eher wegen der Sparpolitik: „Um die Sicherheit in diesem Staat zu gewährleisten, brauchen wir mehr Geld, nicht weniger.“ Wenn beim Bevölkerungs- und Katastrophenschutz gestrichen wird, „können wir das nicht gutheißen“.Er selbst hat als Kind in der Jugendfeuerwehr angefangen und ist seit über 50 Jahren dabei. Was ihn hält, ist das, was in der Mainstream-Gesellschaft rar wird: „der Zusammenhalt, die Kameradschaft, das gegenseitige Vertrauen, anderen Menschen helfen – es ist wie ein Virus.“ Ein Virus, das sehr gern pandemisch werden darf.
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