Die Attentäter von Paris und Brüssel

Terroranschläge Nach den Anschlägen von Brüssel am 22.03.2016 ist die Frage nach den Attentätern in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Artikel gibt einen Überblick zu dieser Diskussion

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Die Attentäter von Paris und Brüssel

Bild: Thierry Monasse/AFP/Getty Images)

Wer sind die Attentäter von Paris und Brüssel?

Europas rechte Populisten bevorzugen simple Antworten. Sie schüren die Angst, mit den Flüchtlingen breite sich der Islam in Europa aus und damit auch Terror und Gewalt.

Unvergleichlich anspruchsvoller und substantieller sind dagegen die Erklärungen, die aus dem linken Flügel der Gesellschaft kommen: Sie sehen in den Anschlägen von Paris und Brüssel eine verzweifelte Antwort auf die Zerstörung der Gesellschaften im Mittleren Osten, als deren Haupt- bzw. alleinigen Verantwortliche sie die USA und die EU sehen.

Bei allen qualitativen Unterschieden zwischen diesen beiden Erklärungsansätzen ist ihnen eines gemeinsam: Beide Erklärungen verorten die Ursachen für den gegenwärtigen Terror außerhalb der EU im Mittleren Osten und damit in islamischen Kernlanden.

Nein, Flüchtlinge sind nicht unter den Attentätern von Paris und Brüssel gewesen. Und sie kamen nicht aus Syrien oder dem Irak oder gar Afghanistan. Es gibt zwar Verbindungen zum IS, aber die Attentäter kommen nicht von dort.

Bereits vor den Attentaten von Brüssel kam die Fragen nach der Herkunft der Attentäter auf. Und es gab erste Antworten. Aber erst nach den Anschlägen in Brüssel am 22. März 2016 ist die Frage nach der Herkunft der Attentäter von Paris und Brüssel stärker in den Blick genommen worden.

Dabei wurde bisher deutlich: Alle Attentäter von Paris und Brüssel sind in Frankreich bzw. Belgien geboren und aufgewachsen. Sie sind Belgier und Franzosen, also Bürger der EU. Ihre Eltern bzw. Großeltern kamen vor allem aus Marokko, wenige aus Algerien.

In Belgien gibt es aber auch eine große belgo-türkische Gemeinde. Auch sie ist islamisch. Doch aus ihr kommt kein einziger der Attentäter.

Es gibt vielmehr Indizien, dass die Attentate von Paris und Brüssel eher einen gewissen Bezug zu den Kolonialkriegen in Marokko und Algerien haben könnten (vgl. unten Dominic Johnson: Kinder des weißen Terrors.). Wobei es durchaus auffällig ist, dass die bisherigen Attentäter nur Wurzeln in Marokko bzw. in Algerien haben, obgleich es in der Logik der Rache naheliegend wäre, dass es z.B. auch Attentäter aus früheren belgischen Kolonien in Afrika gäbe.

Es gibt ebenfalls Hinweise, dass die Konzentration der Attentäter auf Frankreich und Belgien eine Ursache in der in Belgien und Frankreich herrschenden Laizität haben können, von der die muslimischen Bürgerinnen und Bürger besonders in einer durchaus als Diskriminierung zu wertenden Weise betroffen sind (vgl. unten Elizabeth Winkler: Is it Time for France to Abandon Laïcité?), die zu sozialer und ökonomischer Ausgrenzung führt. Gestützt wird diese These von dem Französischen Soziologen Emmanuel Todd in seinem Buch "Wer ist Charlie?", auf das hier aus Platzgründen nur verwiesen werden soll.

Diese Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass die Anschläge von Paris und Brüssel weniger ihre Ursachen im Mittleren Osten haben als innerhalb der EU, genauer in Frankreich und Belgien. Ist dieser Schluss zutreffend, dann läge der Schlüssel für eine wirksame Antwort auf diesen Terror nicht außerhalb, sondern innerhalb der EU.

Der Dschihadismus wäre dann vor allem eine Projektionsfläche der Attentäter, die im großen ganzen eher areligiös gewesen zu sein scheinen. Und der IS hat diese Projektionen für seine Interessen zu kanalisieren gewusst. Die Verbindung zwischen den Attentätern und dem IS (bzw. der Krisen im Mittleren Osten) wäre dann keine kausale, sondern instrumentale.

Die EU bzw. die Regierungen und Gesellschaften ihrer Mitgliedsländer tragen also einen erheblichen Teil der Verantwortung für die Ursachen des Terrorismus (allerdings in einem anderen Sinne als in der von der linken bevorzugt beschriebenen Weise), und nicht der Islam bzw. die in der EU lebenden Muslime und schon gar nicht die Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten.

Dies lässt sich als Kernbotschaft aus den im folgenden aufgelisteten Artikeln herausdestillieren.

Artikel, die auf innereuropäische Probleme für die Anschläge in Paris und Brüssel verweisen:

Der Clash der Islamologen.In Frankreich gebe es "etwa hundert Molenbeeks", sagt Frankreichs Stadtminister Patrick Kanner. Nach den Anschlägen in Brüssel streitet und hadert Frankreich: Ist der Banlieue-Terrorismus religiös oder sozial bedingt? Von Stefan Brändle. Frankfurter Rundschau, 08. April 2016

"Hast du Dschihad-Erfahrung?" Für jeden ausländischen Rekruten erstellt der IS einen Einreisebogen. Die ZEIT hat 3.000 dieser Dokumente analysiert. Die Angaben der Kampfwilligen sind so erschreckend wie banal. Von Yassin Musharbash. DIE ZEIT, 07. April 2016

Jung, unglücklich und leicht zu radikalisieren. Viele der neuen Dschihadisten radikalisieren sich plötzlich. Dahinter steckt oft Rache und Wut auf die Gesellschaft - und weniger religiöser Fundamentalismus. Von Thomas Kirchner, Brüssel. Süddeutsche Zeitung, 02. April 2016

Das Netz des Terrors. Nach den Anschlägen in Brüssel wird immer deutlicher, wie weitreichend die Wurzeln des Terrors sind. Die Spuren in Belgien und Frankreich führen zu Jihad-Veteranen aus dem Maghreb. Von Christian Weisflog. Neue Zürcher Zeitung, 01. April 2016

Islamistische Hassnarrative zerlegen. Muslime werden diskriminiert, aber mit der Opferrolle machen sie es sich zu einfach. Um den Terrorismus zu bekämpfen, muss man die mittelalterliche Orthodoxie angreifen. Ein Gastbeitrag von Marwan Abou Taam. DIE ZEIT, 31. März 2016

Die Mensch-Maschine: Tiefgreifendes, strukturelles, multiples Staatsversagen. Auf den islamistischen Faschismus, dessen Wirken wir in Europa gerade erleben, wissen Politik und Behörden nur eine Antwort. Und die ist falsch. Das lässt sich mit ein paar sehr klaren Zahlen belegen. Eine Kolumne von Sascha Lobo. Der Spiegel, 30. März 2016

Kinder des weißen Terrors. Kein marokkanischer oder algerischer Rentner heißt die Anschläge in Paris und Brüssel gut. Aber der Terror hat eine Verbindung zu den Kolonialkriegen. Von Dominic Johnson. taz, 29. März 2016

Die Dschihad-Ingenieure. Berufe der Terroristen. Überdurchschnittlich viele islamistische Attentäter haben ein Ingenieursstudium absolviert. Zwei Soziologen untersuchen, warum gerade dieser Studiengang unverhältnismäßig oft mit dem Terror verbunden ist. Von Jürgen Kaube. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. März 2016

Warum gerade Molenbeek? Die meisten Attentäter von Brüssel und Paris haben marokkanische Wurzeln. Viele lebten in Molenbeek. Was lief bei ihrer Integration falsch? Von François Misser. taz, 28. März 2016

„Radikalisierung ist keine Folge gescheiterter Integration“. Nach den Anschlägen von Brüssel warnt Olivier Roy vor einer vorschnellen Verknüpfung von Islam und Terror. Im Interview erklärt der Islamforscher, was das eigentliche Problem des Dschihadismus ist. Von Michaela Wiegel, Paris. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. März 2016

Dringend Pommes essen. Für Bart van Neste alias Red D waren die Anschläge ein Schock. Trotzdem bewahrt er sich seinen Humor – wie viele andere Künstler auch. Von Julian Weber. taz, 26. März 2016

"Man hat die Dschihadisten zu lange unterschätzt“. Technisch versiert und gut organisiert: Islamistische Attentäter sind keine Anfänger, sagt der Politologe Asiem el Difraoui. Um sie zu bekämpfen, muss man sie verstehen. Interview: Andrea Backhaus. DIE ZEIT, 24. März 2016

The French Connection. Explaining Sunni Militancy Around the World. By William McCants and Christopher Meserole. Foreign Affairs, March 24, 2016

Is it Time for France to Abandon Laïcité? A year after the 'Charlie Hebdo' attacks, it would appear that France’s strict secularism has only exacerbated religious and racial tensions. By Elizabeth Winkler. New Republic, January 7, 2016

„Hier revoltiert die Jugend, nicht der Islam“. Politologe Olivier Roy spricht im Interview über Europas Dschihadisten, das Schweigen ihrer Eltern und Wege aus der Radikalität. Von Michael Hesse. Frankfurter Rundschau, 21. November 2015

Artikel, die auf Problemlagen und Ursachen des Terrorismus innerhalb des Islam bzw. der islamischen Ländern fokussieren:

Brüssel und seine theologischen Hintergründe.Die Attentate in Belgien haben politische, soziale aber eben auch dezidiert theologische Hintergründe. Darauf muss man eingehen – vor allem wenn es um einen kritischen Blick auf Österreich und dessen islamische Glaubensgemeinschaft geht. Von Ednan Aslan. Der Standard, 01. April 2016

Wie die arabische Welt sich reformieren muss. Von Yezid Sayigh, renommierter Senior Associate am Carnegie Middle East Center, beschreibt in einem Meinungsbeitrag für das Tageblatt, wie die arabische Welt sich reformieren muss. Tageblatt, 31. März 2016

Vom Primat des Politischen. Über die Existenzvoraussetzungen des alten und des neuen Terrorismus. Oder wie sich der Dschihadismus am effektivsten bekämpfen lässt. Von Andreas Fanizadeh. taz, 25. März 2016

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Geschrieben von

klute

Jürgen Klute, Mitglied des Europäischen Parlaments von 2009 - 2014. Theologe, Sozialpfarrer, Publizist & Politiker aus dem Pott.

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