Die marktkonforme Seele

Rasterpsychotherapie Der Änderungsantrag ist vom Tisch. Es bleibt ein Beigeschmack: Offenbar ist die patientenorientierte Behandlung psychischer Leiden der Politik ein Dorn im Auge
Ausgabe 22/2021
Zu lang, zu teuer: Klassische Psychoanalyse „auf der Couch“ wird zunehmend von effizienteren Maßnahmen wie der Verhaltenstherapie verdrängt
Zu lang, zu teuer: Klassische Psychoanalyse „auf der Couch“ wird zunehmend von effizienteren Maßnahmen wie der Verhaltenstherapie verdrängt

Foto: Everett Collcetion/IMAGO

Psychische Krankheiten werden die Epidemie, die folgen wird. So zumindest beurteilt ein Teil der Fachwelt den gestiegenen Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen „nach Corona“ (der Freitag 17/2021). Auch zuvor stand es um diesen Bedarf – laut EU-Kommission sind 27 Prozent der Erwachsenen in der EU von psychischen Erkrankungen betroffen – nicht allzu gut. Zwar ist Deutschland mit seiner psychotherapeutischen Versorgung im europäischen Vergleich gut aufgestellt, doch lange Wartezeiten für einen freien Therapieplatz sind keine Seltenheit.

Der Zugang zu einer Psychotherapie gestaltete sich bislang etwa so: Der Patient ringt mit sich. Und ringt weiter. Und wenn er es schafft, Scham und Kraftlosigkeit für einen Moment zu überwinden, fragt er bei seinem Hausarzt oder direkt in einer psychotherapeutischen Praxis an. Hat er Glück, kann er schon bald darauf zur psychotherapeutischen Sprechstunde, die vormals Erstgespräch genannt wurde. Oder er hat Pech. Laut Bundespsychotherapeutenkammer warten Betroffene in Deutschland durchschnittlich 20 Wochen bis zum Beginn einer regulären Behandlung.

In mindestens zwei Sitzungen ermittelt der Therapeut dann in der Sprechstunde, ob eine Behandlung sinnvoll wäre und welche. Oft ist anfangs nicht klar, was den Patient*innen genau fehlt. Das ist nachvollziehbar bei Krankheiten, deren Ursachen nicht allein in biologischer, sondern auch in biografischer Dysbalance zu suchen sind. Daher ist es nicht selten, dass ein Therapeut während der laufenden Therapie die Diagnose anpasst und die Behandlung verlängert. Bei einer Verhaltenstherapie, der „schnellsten“ Therapieform, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen derzeit beispielsweise bis zu 80 Sitzungen à 50 Minuten. Genau dieses Vorgehen, das etwa eine für wenige Wochen angesetzte Therapie auf weitere Monate oder gar Jahre erweitern kann, war den Krankenkassen und dem Gesundheitsministerium unter Jens Spahn offenbar ein Dorn im Auge.

Der Protest ist laut

Zumindest suggerierte das ein Änderungsantrag zum „Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz“. Jene 160 Seiten pries Spahn bereits im Februar als große Modernisierungsoffensive an. Im Mai jedoch reichten die schwarz-roten Regierungsfraktionen einen Änderungsantrag ein, der unter anderem dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vorliegt. Darin wird empfohlen, die Versorgung von psychisch Kranken künftig „bedarfsgerecht und schweregradorientiert“ zu gestalten. In Zukunft sollte zu Beginn einer Therapie beschlossen werden, wie lang sie dauern wird. Individuelle Anpassungen wären folglich nicht mehr möglich gewesen. Einzelne Mitglieder der SPD-Fraktion merkten bereits zuvor an, dass die Änderung nicht in der Koalition abgestimmt wurde. Gestern stimmte die Bundestagsfraktion dann gegen den Antrag. Damit ist er vom Tisch.

Doch der Schaden ist bereits angerichtet. Entgegen der Sitte, die unangenehmen Passagen großer Gesetzesentwürfe möglichst heimlich per kurzfristigem Änderungsantrag nachzureichen, um ein Medienecho zu verhindern, ist das diesmal nicht gelungen. Prominente und viele Psychotherapeut*innen machten im Internet per Hashtag (#Rasterpsychotherapie) auf die Reform aufmerksam. Eine Online-Petition, die die Änderung verhindern wollte, hatten bereits knapp 200.000 Menschen unterschrieben. Verbände wie der der Patient*innen haben sich geäußert. So etwa der Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, Gebhard Hentschel: „Eine Behandlung ,nach Tabelle‘, die Patient*innen je nach Diagnose eine bestimmte Anzahl an Therapiestunden zuweist, müssen wir verhindern.“

Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen – all das sind komplexe und hochindividuelle Krankheitsmuster, die sich aus dem von den Betroffenen Erlebten ergeben. Diese Krankheitsbilder zu betrachten wie Waren, die genormten Längen entsprechen und sich nur unwesentlich voneinander unterscheiden, ist nichts Geringeres als das Ende einer wirksamen Psychotherapie. Darauf zielte der Änderungsantrag ab.

Bricht man dies auf die organische Medizin herunter, würde das bedeuten: Wenn sich nach drei Wochen Behandlung herausstellt, dass die Magenschmerzen des Patienten nicht von einer Schleimhautentzündung, sondern von einer Krebserkrankung im Frühstadium herrühren, dann ist das egal – Ersteres wurde eingangs ermittelt, und der Patient muss nach drei Wochen gehen. Das ist in der Tat „bedarfsgerecht“. Nur geht es nicht um die Bedürfnisse des Patienten, sondern um die des Marktes.

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