Aus Walter Retzlow wird Heinz Brenner, aus einem jungen SS-Mann vom letzten Aufgebot 44/45 ein Antifaschist der ersten Stunde. Der wirkliche Brenner kam während der NS-Zeit erst ins Zuchthaus, dann ins Strafbataillon nach Nordafrika. Dort verlor sich seine Spur, ohne dass die Papiere verlorengingen. Im Sommer 1945 tauchen sie auf wundersame Weise in den Ruinenfeldern hinter dem Berliner Alexanderplatz wieder auf und werden Walter Retzlow von untergetauchten SS-Kameraden zugespielt. Der greift so dankbar wie der Not gehorchend zu, um das eigene in einem fremden Leben einzurichten, was Tarnung verheißt und Rettung verspricht. Zwar hat er in seiner SS-Zeit nie gekämpft, sondern allein „Fremdarbeiter“ bewacht, auch war die Zeit zu kurz, die Blutgruppe unter seinen li
Anna Seghers erforscht vor 70 Jahren die Befreiung vom Krieg als Befreiung von sich selbst
Antikriegstag In der Novelle „Der Mann und sein Name“ laviert ein ehemaliger SS-Mann zwischen zwei Biografien hin und her
linken Arm zu tätowieren – sollte jedoch die Besatzungsmacht auf ihn stoßen, droht Gefangennahme, womöglich Deportation in ein sowjetisches Straflager. Brenners Papiere sind Retzlows neues, zweites, geliehenes Leben. Seine Befreiung vom Krieg wird zur Befreiung von sich selbst, seine Ankunft im Frieden zur Chance. Nicht eben häufig mit Nachkriegsstoffen befasst, schreibt Anna Seghers Anfang der 1950er-Jahre ihre Novelle Der Mann und sein Name, um ein Schicksal zu schildern, das zwischen zwei Biografien laviert – weniger aus verwerflichem Vorsatz, mehr durch Zufall und Gelegenheit. Die Frage scheint auf, wie soll man sich selbst entkommen, wenn man dem Krieg entkommen ist und nicht für den Rest seines Lebens dafür haften will? Wie Schuld sühnen, von der Retzlow nicht wahrhaben will, dass ausgerechnet er sie abtragen soll? „Was war ich schon groß? Der Stellvertreter des Stellvertreters“, flüstert er in sich hinein. Als Heinz Brenner war er nicht einmal das, sondern blieb unbefleckt. Bis dieser Brenner wieder auftaucht – wenn überhaupt –, kann viel Zeit vergehen, in der es sich lohnt, ein anderer zu sein.Sicher, die Feuer der Schlachten sind gelöscht, aber die Erde raucht noch immer. Was ist schon vergessen, was vorbei? Nicht ausdrücklich, mehr hinter vorgehaltener Hand, aber durchaus vernehmbar, fragt die Autorin: Wenn einer wie Retzlow so willig wie unfreiwillig in das Mahlwerk eines Krieges geriet, kann es ihm da verwehrt sein, als Brenner über die ersten Jahre im Frieden zu kommen? Die Biografie ein gewagtes, ein gefährliches Spiel? Mit der Uniform zugleich die Identität ablegen?Die einstigen Vorgesetzten aus Retzlows überschaubarer SS-Karriere, die noch ein Auge auf ihn haben, halten es ähnlich. Nach der Stunde null gleichfalls unter falschen Namen unterwegs, warten sie auf ihre Stunde, um der Besatzungsmacht und den Kommunisten im Osten in die Parade zu fahren. Nachts werden Plakate an verkohlte Mauern geklebt. „Nieder mit der Sowjetrepublik Deutschland! Leistet Widerstand! Seid keine Russenknechte!“ Bald sollen Brücken in die Luft fliegen, Bahntrassen, Zugwagen, Lebensmittellager. Parole: Was wir gesprengt haben, bleibt gesprengt! Dafür können sie einen Mann wie Retzlow gut gebrauchen. Schließlich ist er Schlosser und kann sich mit seinen Papieren als Brenner mühelos in einem Reparaturbetrieb anstellen lassen, der jeden Tag ein bisschen mehr aus den Trümmern wächst. Dem Ehrlichen, dem Fachmann und untadligen Sozialisten Brenner stehen die Werktore offen. In den Fabriken, vor allem dort, muss die neue Macht Fuß fassen, will sie Anklang finden bei den Leuten, deren Nasen morgens weiß vor Hunger sind. „Er war kein Tier“Unweigerlich kreuzen sich in Retzlow-Brenner zwei Menschenwege, aber nur ein Leben bleibt übrig. Und das muss ihm kein Versteck mehr sein. Als guter Arbeiter kann er aus der Deckung treten und aufatmen.Der Mann und sein Name sind eins. „Die Arbeit war schwer, sodass er keinen Augenblick Zeit hatte, über sich nachzudenken“, schreibt Anna Seghers. Ohne übermäßige Anteilnahme erzählt sie von der Geschichte eines mutmaßlich Davongekommenen, dem kein großes Glück widerfährt, sondern ein glückliches Geschick zuteil wird. Sie wirft ihm die glatte Oberfläche des Angepassten nicht vor, beschreibt sie stattdessen als zweite Haut, mit der sich auskommen lässt. Als Brenner fürchtet, in Berlin als Retzlow enttarnt zu werden, zieht er hinaus aufs Land zur Motorenstation und Bauernhilfe. Der junge Mann will nun gar in die Partei und kann für Wochen eine idyllisch gelegene Parteischule besuchen. Er packt zu, um erntereife Getreideschläge gegen Dammbruch und Überschwemmung zu retten. Die Lokalzeitung singt ihm ein Heldenlied und zeigt den Todesmutigen im Schein der Fackeln am geborstenen Wehr. Welcher Beweise bedarf es noch? So viel ist möglich, wenn man dem Krieg entkommt und nicht den Rest seines Lebens dafür haften muss. Irgendwann allerdings – die Fabel braucht ihre Moral – muss bezahlt werden. Als er der mutmaßlichen Sabotage bei Traktorenketten nachgeht, stößt Brenner auf den SS-Kameraden Berg, der jetzt als Betriebsleiter Friedrich Gerber sein Dasein fristet. Berg findet, eine solche Begegnung „sieht nach Vorsehung aus. Wir sind doch nicht die ersten, die die Vergangenheit ummontiert haben, wir haben beide inzwischen Fuß gefaßt und schauen getrost in die Zukunft. Wir schweigen beide oder wir reden beide“.Retzlow ist auf eine Falltür getreten. Es bricht zusammen, was er sich zurechtgezimmert hat. Die Zeit des Asyls in einer fremden Biografie ist abgelaufen. Jetzt geht der Vorhang hoch und gibt den Betrug preis, von dem sich Retzlow nicht zu befreien vermochte, weil er so befreiend zu sein schien. Die auslaufende Handlung streift eine kurze Haftzeit, die freilich mehr symbolischer Natur ist. In der mittlerweile gegründeten DDR gilt eine Amnestie für niedere SS-Kader, sofern sie an keinen Verbrechen beteiligt waren. Auch wenn er Vertrauen gebrochen hat und aus der Partei verbannt wird, darf Retzlow wieder in seinem Traktorenbetrieb arbeiten. Er war nie Brenner, aber er hätte es sein können, sagen sie hinter seinem Rücken. Eine Lesart des Werkes bietet sich an, die den Plot vom geläuterten neuen Menschen bedient: Aus dunkler Vergangenheit kommend, ist der (noch) zu schwach ist, um stark zu sein und reinen Tisch zu machen, aber die Gemeinschaft fängt ihn auf. Doch erscheint auch eine andere Deutung möglich. Sie gibt einem klar existenzialistischen Ursprung für Retzlows biografische Travestie Raum. Davon klingt etwas an, wenn Seghers über ihre Figur notiert: „Er war kein Tier, kein sonderbares, kein stolzes, kein scheues. Er war ein Mensch, und er wollte nicht zugrunde gehen.“Da ein Krieg seine Lebensmedaille mehr als alles andere prägen half, hieß das für Retzlow notgedrungen: Er musste sich entscheiden zwischen Schuld und Offenbarung oder Schutz und Selbstbestimmung bis hin zur Selbstverleugnung. Denn: „er wollte nicht zugrunde gehen“. Möglicherweise ungewollt, aber zutreffend, stimmte die Seghers-Novelle vor 70 Jahren auf die Gewissheit ein, dass viele Retzlows in der DDR ankommen und überwintern konnten, ohne sich groß tarnen zu müssen. Keine Lebenslüge des Antifaschismus, eher ein Akt der Befreiung, den ein gerechtes Gedächtnis zu würdigen wüsste.