Die globale Eskalation der Spannungen zwischen dem Westen einerseits, Russland und China andererseits, deren Zeitzeugen wir sind, stellt sich uns als „eine schwindelerregende ‚Zeitkontraktion‘“ dar, „in der sich fast täglich Dinge ereignen, die niemand zuvor für möglich gehalten hätte“. So die Beobachtung Jürgen Links im Vorwort des eben erschienenen Sonderhefts „Für eine andere Zeitenwende!“ der Zeitschrift kultuRRevolution. Was eine „Zeitkontraktion“ ist, wissen die Älteren von uns aus der Lektüre von Trotzkis Geschichte der russischen Revolution, auch wenn da das Wort nicht fällt. Auch da schon im Vorwort wird ein „Verlauf“ erörtert, der „in kurzer Zeitspanne j
Für den Frieden: Nehmt Nordstream 2 in Betrieb!
Antikriegstag Die Sanktionspolitik des Westens gegenüber Russland und China führt zur Deglobalisierung – und so bald zum Weltkrieg?
n kurzer Zeitspanne jahrhundertealte Einrichtungen stürzt, neue schafft und wieder stürzt“.Trotzki spricht freilich von einer Revolution, während wir es mit den Folgen oder Begleiterscheinungen eines Krieges zu tun haben. Aber die Dynamik dürfte vergleichbar sein: „Das chronische Zurückbleiben der Ideen und Beziehungen hinter den neuen objektiven Bedingungen, bis zu dem Moment, wo die letzteren in Form einer Katastrophe über die Menschen hereinbrechen, erzeugt eben in der Revolutionsperiode“ – und kann auch in der Kriegsperiode erzeugen – „die sprunghafte Bewegung der Ideen und Leidenschaften, die den Polizeiköpfen als einfache Folge der Tätigkeit von ‚Demagogen‘ erscheint.“ Wenn das richtig ist, kann es geschehen, dass die zur Zeit noch sehr hohe Zustimmung der Menschen zur Art und Weise, wie die Bundesregierung auf den Ukrainekrieg reagiert, sehr bald und ganz plötzlich in sich zusammenfällt.Bisher haben die Menschen das eigentlich Neue in unserer neuen Situation noch nicht erfasst. Sie diskutieren über den Sinn oder Unsinn von immer mehr Waffenlieferungen in die Ukraine, einige auch über eine vielleicht mögliche Verhandlungslösung, die den Krieg beenden könnte. Aus der ukrainischen Führung kam kürzlich das bemerkenswerte Statement, aus ukrainischer Sicht müsse der Krieg noch vor dem Winter beendet sein. Eigentlich wäre dasselbe aus deutscher Sicht zu sagen. Wegen des Problems der Gasheizung. Aber selbst wenn es zu einer Verhandlungslösung käme, würde sie den angelaufenen Prozess, möglichst alle ökonomischen Beziehungen zwischen dem Westen und Russland abzubrechen, nicht rückgängig machen. Dieser Abbruch ist fest eingeplant. Und auch China, das doch gar keinen Krieg führt, ist in den Prozess einbezogen. Diese neue Tendenz in den internationalen Beziehungen, für die es auch schon einen Namen gibt: Deglobalisierung, ist bei allem Unheil, von dem die Ukrainerinnen und Ukrainer heute heimgesucht werden, das für sie selbst und die ganze Welt noch weit Gefährlichere.Denn wir reden nicht von einem Naturprozess. Die Deglobalisierung wird gemacht, unter Führung der USA. Man muss deshalb fragen, um welchen Ziels willen. Dabei schärft es den Blick, wenn wir auf China blicken. Soweit wir den Ukrainekrieg isoliert betrachten, verheddern sich unsere Debatten in einem Strauß von Fragen, wie alles dazu gekommen ist – welchen Anteil hat Putins Revisionismus, die Ostausdehnung der NATO, die Nichtumsetzung des Minsker Abkommens durch die Ukraine, der Wunsch der Ukrainerinnen und Ukrainer, dem Westen anzugehören? Ein weites Feld. Was China angeht, ist die Sache sehr viel einfacher. Nancy Pelosi, die Vorsitzende des US-Kongresses, fährt aus heiterem Himmel nach Taiwan, wohl wissend, dass China darin einen Angriff auf die einst mit den USA ausgehandelte „Ein-China-Politik“ sieht. Obwohl China mit einem Militärmanöver reagiert, das an das russische kurz vor dem Überfall auf die Ukraine erinnert, folgen weitere US-Abgeordnete, auch deutsche Abgeordnete. Warum nur, warum?Was ist die „neue Situation“?China hat infolge dieser Reisen die ökologische Zusammenarbeit mit den USA abgebrochen. Deglobalisierung gerade gegen China wird aber ohnehin allenthalben gefordert. Wenn es nur um Russland ginge, das wäre für die Weltwirtschaft gar nicht so einschneidend. Selbst in Deutschland, das jetzt so sehr mit den Folgen der Trennung vom russischen Gas kämpft, har Russland nur einen Anteil von zwei bis drei Prozent am Außenhandelsvolumen. Der Anteil Chinas beträgt zehn Prozent. In den USA ist er so groß – aus keinem Land importieren sie mehr als aus China -, dass schon von einem fiktiven Land namens „Chimerika“ gesprochen wurde. Aber jetzt wollen sie sich von China abnabeln, und dasselbe wird von uns Deutschen gefordert. „Chinas Aufstieg ist keinem anderen Land so zugutegekommen wie Deutschland“, sagt Dalia Marin, Professorin für internationale Wirtschaft von der Technischen Universität München, und: „Deutschland hat zwar extrem von China profitiert, aber wir sind jetzt in einer neuen Situation.“ Ein Zurückfahren der ökonomischen Beziehungen bedeute zwar, dass wir „ärmer werden“, „aber Sicherheit ist ein wichtigeres Gut geworden, und das muss uns einige Prozente des Wachstums wert sein“.Worin besteht denn eigentlich die „neue Situation“? Was hat China Neues getan im Vergleich mit, sagen wir, der Zeit um die Jahrtausendwende? Nun, es ist ökonomisch stärker geworden. Die USA fühlen sich in ihrer Vormachtstellung bedroht. Zu einer verschärften Auseinandersetzung mit China hat US-Präsident Biden die „freie Welt“ sehr bald nach seinem Amtsantritt aufgerufen. Und worin soll die Verschärfung bestehen? In der FAZ konnte man schon lesen, zur vom Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ habe es auch deshalb kommen müssen, weil die USA bei einer etwaigen militärischen Auseinandersetzung mit China nicht auch noch Europa gegen Russland verteidigen könne. Es wird also schon ganz offen vom Dritten Weltkrieg gesprochen. Warum gibt es die Deglobalisierung? Warum bereitet sich der Westen auf eine möglichst weitreichende Autarkie vor, in der er jedenfalls auf Russland und China nicht mehr angewiesen wäre? So undenkbar es auch erscheinen mag – es kann sich darum handeln, dass die Räume der Globalisierung, eben noch als Menschheitsfortschritt gepriesen, für den Weltkrieg präpariert, dass sie vorsorglich in Raumfragmente zerbrochen werden. Anknüpfend an die „Zeitkontraktion“, von der eingangs die Rede war, könnten wir hier Richard Wagner zitieren: „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“Aber wenn wir uns jetzt wieder dem Ukrainekrieg zuwenden, müssen wir erkennen, dass die irre Beschleunigung im aktuellen Geschehen lange vorbereitet war in einem Prozess, der spätestens 2008, zugleich also mit der jüngsten Weltfinanzkrise begann. In diesem Jahr forderte der US-Botschafter in Schweden, Michael M. Wood, die Regierung in Stockholm auf, den Bau der teils durch schwedische Hoheitsgewässer führenden Gas-Pipeline Nordstream 1 zu verhindern. Er äußerte das in der Tageszeitung Svenska Dagbladet. Gewiss war die Pipeline schon ohnehin in Schweden kritisiert worden, und der polnische Verkehrsminister Radoslaw Sikorski hatte sie gar mit der deutsch-russischen Zusammenarbeit im Hitler-Stalin-Pakt verglichen. Aber die Aktion des Botschafters Wood, in der Deutschland vor aller Welt wie ein Feindstaat behandelt wurde, war doch ein Novum. Und es ging so weiter, als Nordstream 2 im Bau war. Gegen Deutschland wurden Sanktionen verhängt. Als Joe Biden US-Präsident geworden war, kam es zwar zu einer Einigung mit der deutschen Regierung unter Olaf Scholz. Nordstream 2 wurde nun unter der Bedingung bewilligt, dass russisches Gas nicht als Druckmittel gegen die Ukraine eingesetzt werde. Aber wenig später und wie auf Bestellung setzte Russland noch ganz andere Druckmittel ein. Das russische Militärmanöver in Belarus war geeignet, einen Krieg wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Und zeugte es nicht von höchster staatsmännischer Klugheit, wenn die deutsche Regierung den russischen Überfall gar nicht abwartete, sondern Nordstream 2 schon zwei Tage vorher ad acta legte?Wandel durch HandelFast Tag für Tag belehrt man uns jetzt, wie falsch es gewesen sei, sich mit den Pipelines „in russische Abhängigkeit“ begeben zu haben. Aber erstens war diese Abhängigkeit wechselseitig, das heißt es war gar keine. Wenn Russland nicht auch vom Westen abhängig gewesen wäre, hätte ja die ganze Sanktions-Politik gegen Russland keinen Sinn gehabt. Wechselseitige Abhängigkeit war das Wesen der Globalisierung. Und ja, sie diente dem Frieden. Um noch einmal Daria Marin zu zitieren: „Das Fundament der Europäischen Union ist ja das Kohle- und Stahl-Abkommen, wo es darum ging, die deutsche und die französische Industrie so abhängig voneinander zu machen, dass kein Krieg mehr in Europa stattfindet. Das hat funktioniert.“ Wenn jetzt behauptet wird, die russische Aggression zeige, dass „Wandel durch Handel“ nicht funktioniere, werden die Dinge auf den Kopf gestellt. Denn die russische Aggression ist dem Wirtschaftskrieg gegen die Handelsbeziehungen nicht vorausgegangen, sie ist ihm gefolgt. Was zum Zweiten führt: Man braucht bloß zu fragen, wann die Planung der Gaspipelines begonnen hat, um zu sehen, dass sie mit irgendwelchen Machtkalkülen des russischen Präsidenten Putin überhaupt nichts zu tun haben. Genauer gesprochen, haben sie heute damit zu tun, das sehen wir alle, aber dazu musste es erst einmal kommen. Überlegungen zur Pipeline gab es seit 1995, eine erste Machbarkeitsanalyse wurde 1997 von Gazprom durchgeführt. Da war noch Jelzin russischer Präsident.Wechselseitige Abhängigkeit dient dem Frieden. Sie zu zerschlagen, dient dem Weltkrieg. Und der erste Schlag musste sich gegen Deutschland richten, das seit langem versucht hat, zwischen dem Westen, in dem es selbst nicht die unwichtigste Rolle spielt, und Russland zu vermitteln. Wir sind von China auf Russland gekommen, nun wieder zu China zurück: Wie hängt denn, wird man fragen, der Ukrainekrieg mit der amerikanisch-chinesischen Auseinandersetzung zusammen? Wenn man Georg Fülberth folgt, könnte er die Rolle einer „Initialzündung“ spielen, „wie in den Marokko-Krisen (1904–1906, 1911), dem Bosnienkrieg von 1908 und bei dem Mordanschlag auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie in Sarajevo am 28. Juni 1914. Darauf folgte der Erste Weltkrieg.“ Wolfgang Fritz Haug, der das in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Das Argument zitiert, zitiert auch eine Äußerung Herfried Münklers am Tag nach dem russischen Überfall: Der Westen hätte mit Russland die Neutralität der Ukraine aushandeln sollen, aber es passte ihm nicht in die Pläne – er hat „die Ukraine in die Falle laufen lassen“. Bleibt die Frage, wie sich die Menschen gegen den drohenden Weltbrand zur Wehr setzen können. Obwohl alle neueren Weltkriege auf dieselbe Art zu entstehen scheinen, nämlich in der Folge von Weltwirtschaftskrisen – nach derjenigen von 1873 ff. folgte der imperialistische Wettlauf, der zum Ersten Weltkrieg führte, nach dem New Yorker Börsenkrach von 1928 erstarkte in Deutschland die Hitlerbewegung -, muss der Widerstand doch jedesmal eine besondere Gestalt annehmen. So suchte vor 1914 die internationale Arbeiter:innenbewegung den Krieg zu verhindern. Man appellierte an die Solidarität der Arbeitenden diesseits und jenseits der Feindfronten. Vor 1939 gab es die Auseinandersetzung mit den Faschisten, deren Weg in den Weltkrieg für jedermann offenkundig war. Heute sind wir in einer ähnlichen Situation wie die Arbeitenden vor 1914, obgleich es eine Arbeiter:innenbewegung nicht mehr gibt. Das Vergleichbare ist aber, dass der Frieden gegen beide Kriegsparteien, das sind heute der westliche wie der russische Imperialismus, erkämpft werden muss. Wir müssen den Skandal an die Wand malen, der darin besteht, dass sie die ökonomischen Adern und das Gewebe der heute lebenden Menschheit zerschneiden. Wir müssen rufen: Nehmt Nordstream 2 in Betrieb!