Deutschland angeklagt: Nicaragua ist mehr als Kläger im Namen der Palästinenser

Meinung Einen solchen Fall hat es vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag noch nicht gegeben. Nicaragua wirft Deutschland die Begünstigung von „Völkermord“ im Gazastreifen vor
Nawaf Salam, Präsident des Internationalen Gerichtshofs
Nawaf Salam, Präsident des Internationalen Gerichtshofs

Foto: Robin Van Lonkhuijsen/ANP/AFP/Getty Images

Nicaragua ist keine Laufkundschaft vor dem Haager Tribunal. Es hat Erfahrung und wurde schon einmal erfolgreich vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) vorstellig. Anfang der 1980er Jahre ließ die US-Regierung unter dem republikanischen Präsidenten Ronald Reagan bei einer CIA-Aktion die nicaraguanischen Pazifikhäfen verminen. Durch ökonomische Sabotage sollte die sandinistische Revolution zum Scheitern gebracht werden, die sich seinerzeit eines Grenz- und Guerilla-Krieges (von Honduras aus geführt) der von den USA finanzierten Contra-Freischärler zu erwehren hatte. Als demokratisch gewählter Präsident regierte Daniel Ortega, ein Comandante der Frente Sandinista (FSLN), die im Juli 1979 die Diktatur des Somoza-Clans zu Fall brachte und für das mittelamerikanische Land einen progressiven Weg einschlagen wollte.

Der IGH ließ eine Selbstautorisierung der USA zum Rechtsbruch nicht gelten

1986 entschied der IGH, dass die USA sämtliche Handlungen gegen die wirtschaftliche Souveränität Nicaraguas zu unterlassen und die Minen – besonders vor dem Hafen Corinto – zu beseitigen hätten. Worum sich die Reagan-Administration wenig scherte. Sie legte Wert darauf, ein beeindruckendes Beispiel für den Umgang mit internationalem Recht während des Kalten Krieges abzuliefern. Gegen die Sandinisten und einen wachsenden Einfluss Kubas in Mittelamerika waren fast alle Mittel recht. Umso bemerkenswerter, dass der IGH jene Selbstautorisierung zum Rechtsbruch nicht gelten ließ. Der „Fall Nicaragua“ wurde zum Paradigma für einen Konflikt zwischen dem globalen Westen und einem auf Selbstbestimmung bedachten Süden.

Der steht auch heute – gewiss unter anderen Vorzeichen – hinter der vom IGH seit Anfang der Woche verhandelten Klage Nicaraguas gegen Deutschland, sich – vorrangig durch Waffenlieferungen für Israel – der Beihilfe zum Völkermord schuldig zu machen. Dieser Vorwurf kann nicht von der Klage Südafrikas getrennt werden, Israels Kriegsführung in Gaza als Form des Genozids (Verstoß gegen die UN-Völkermordkonvention von 1948) einzustufen und durch den IGH verurteilen zu lassen. Sollte das in absehbarer Zeit tatsächlich geschehen, wären die Verbündeten, die eine Kriegsführung des massenhaften Tötens von Zivilisten und des Zerstörens von Lebensgrundlagen ermöglichen, gleichfalls belastet, wenn nicht verurteilt.

Beihilfe und Mittäterschaft lägen auf der Hand, welche Begründungen dafür auch immer herangezogen werden. Die deutsche Staatsräson ist kein Rechtsgut, sondern ein nationaler Politikansatz, dessen Vollzug nicht im rechtsfreien Raum stattfindet. Wenn Deutschland allein bis Ende 2023 Waffen im Wert von mehr als 326 Millionen Euro geliefert und damit ein Viertel der israelischen Rüstungseinfuhren bestritten hat, ist das als Tatsache ein Tatbestand. Dieser Transfer kann schwerlich von den zwischenzeitlich mehr als 33.000 Toten – nicht vorwiegend Hamas-Kämpfer, sondern Frauen und Kinder, wie seriöse Quellen besagen – getrennt werden. Oder der Hungersnot, der Teile Gazas ausgesetzt sind. Es handelt sich vielmehr um begünstigende Umstände.

Der französische Anwalt Alain Pellet, einst Vorsitzender der UN-Völkerrechtskommission, erklärte vor dem IGH im Namen Nicaraguas, die Waffenverkäufe bedeuteten, dass Deutschland einen Völkermord „erleichtert“. Da Anzeichen dafür nicht zu übersehen seien, dürfe Deutschland mit seinen boomenden Waffenverkäufen „nicht weiter wie bisher“ verfahren. Eine absolut nachvollziehbare Argumentation, da in der UN-Völkermordkonvention klar formuliert ist, sie greife schon, gäbe es nur Verdachtsmomente für einen Genozid. Unterzeichner wie Deutschland sollten diesen nachgehen, statt ungerührt Waffen zu schicken.

Deutschland misst in der Ukraine und in Gaza mit zweierlei Maß

Wenn nicht, dann ist ein Land, das sich gern als die globale Stimme für Menschenrechte feiert und andere unablässig belehrt oder maßregelt, nicht nur moralisch zwielichtig, sondern steht auch im Verdacht, geltendes Recht zu brechen. Ganz abgesehen davon, dass Israels Verstöße gegen das Menschenrecht auf Leben – man denke an die gezielte Tötung der Helfer von World Central Kitchen – nicht regierungsoffiziell verurteilt werden. Man misst mit zweierlei Maß – will die russische Kriegsführung in der Ukraine als verbrecherisch verurteilt und als Fall für die internationale Rechtssprechung eingestuft sehen, ist aber außerstande, ein vergleichbares Verhalten der israelischen Armee zu ächten.

Sicher wird Deutschland vor dem IGH einigermaßen glimpflich davonkommen, aber zunächst einmal hat der Gerichtshof die Klage angenommen und behandelt sie mit spektakulärer Transparenz. Schon das ist mehr als nur ein Indiz dafür, dass der Gaza-Konflikt Auswirkungen hat, die in der Parteilichkeit des Westens wurzeln. Sie machen sich umso gravierender bemerkbar, je länger der Krieg dauert. Es ist nicht nur die vertiefte Spaltung zwischen dem globalen Norden und Süden evident. Letzterer entwickelt vor allem dadurch Geltungsmacht, indem er sich auf das internationale Recht beruft. Nicaragua ist nicht nur Anwalt in eigener Sache und im Interesse der Palästinenser.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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