Internationaler Gerichtshof: Israel muss Kampfhandlungen in Rafah einstellen

Meinung Die Richter des UN-Tribunals gehen mit ihrer Entscheidung klar über das hinaus, was sie Ende Januar erklärt haben. Der internationale Druck auf Israel, den Krieg zu beenden, nimmt weiter zu
Die israelische Delegation am Internationalen Gerichtshof in Den Haag
Die israelische Delegation am Internationalen Gerichtshof in Den Haag

Foto: Imago/ANP

Nicht nur vier Monate, sondern auch 6.000 Tote später hat der Internationale Gerichtshof (ICJ) in Den Haag erneut eine Entscheidung zum Gaza-Krieg getroffen. Sie lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Israel ist aufgefordert, die Kampfhandlungen in der Stadt Rafah sofort einzustellen. Was die Richter diesmal verkünden, geht klar über das hinaus, was sie am 26. Januar erklärt haben. Vor dem gleichen juristischen Gremium war wegen der Klage Südafrikas verhandelt worden, Israel mache sich mit seiner Kriegsführung in Gaza des Völkermords schuldig und verstoße gegen die Genfer Konventionen. Zwar wurde seinerzeit dem Eilantrag nicht stattgegeben, doch die Klage nicht zurückgewiesen, stattdessen eine längere Prüfung zugesagt. Womit die Richter zu verstehen gaben, dass die Rechtmäßigkeit der südafrikanischen Position außer Frage stand.

Die israelische Regierung muss mit der jetzigen ICJ-Entscheidung eine weitere Niederlage hinnehmen. Und sie nicht allein. In die Pflicht genommen sind mehr denn je die Verbündeten Benjamin Netanjahus. Sie sollten sich aufgefordert fühlen, wenn nicht Isarels Verteidigungs-, so doch dessen Kriegsfähigkeit in Gaza so zu beschneiden, dass nicht länger in einem solchen Maße getötet und zerstört werden kann, wie das seit mehr als sieben Monaten der Fall ist.

Der Gerichtshof hatte Ende Januar Sofortmaßnahmen verlangt

Im Prinzip hätte das schon Ende Januar passieren müssen, als das Haager Gericht von der israelischen Regierung Sofortmaßnahmen verlangte, die der humanitären Katastrophe im Kriegsgebiet Einhalt gebieten. Dies ist nicht geschehen. Allein der israelische Angriff auf Rafah zeigt in drastischer Weise, dass die Lage für Hunderttausende von Palästinensern noch unerträglicher, noch lebensgefährlicher wurde. Erst aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden vertrieben, sind sie auch dort nicht mehr sicher. Waren sie wohl nie.

Was dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen kann, das ist die Koinzidenz zwischen der jetzigen Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs und einem absehbaren Beschluss des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), der sich mit dem Verhalten von Personen, sprich Politikern, zu beschäftigen hat. Dort wird in den nächsten Tagen erwartet, dass sich die sogenannte Vorverfahrenskammer zum Ersuchen von ICC-Chefankläger Karim Kahn äußert, Haftbefehle gegen den israelischen Regierungschef und seinen Verteidigungsminister Joaw Galant sowie drei Hamas Führer zu verhängen.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass den Anträgen stattgegeben wird. Khan hatte sich erst nach wochenlangen Prüfungen der Fakten- und Beweislage zu seinem Schritt entschlossen. Es war ein achtköpfiges Expertengremium berufen, das ihn beriet. Dazu zählten immerhin ehemalige Richter am ICC, ein einstiger Vorsitzender des Jugoslawientribunals (ICTY/es bestand 1993-2012) und frühere Rechtsbeistände der US-Regierung.

Diplomatischer Druck auf Israel steigt

Das ICJ-Urteil zeigt, je länger der Gaza-Krieg dauert, um so mehr wird er zu einem Desaster für die westliche Nahostpolitik und einseitige Unterstützung Israels. Fast acht Monate der totalen Zerstörung, nicht abreißender Gefechte mit Raketen, Panzern und Artillerie und so vieler ziviler Opfer sind die Konsequenz. Wie international inzwischen damit umgegangen wird, sei es in den Vereinten Nationen – besonders im Sicherheitsrat, wo oft nur ein Veto der USA Israel nicht genehme Entschlüsse verhindert – oder durch Gerichtshöfe, das zwingt neben den USA auch Staaten wie Deutschland in die politische Defensive. Allein, dass die Regierung Scholz eher früher als später darüber Auskunft geben muss, ob sie im Falle eines Haftbefehls gegen Benjamin Netanyahu diesen vollstrecken würde oder nicht, erweist sich als höchst unerwünschte Situation für einen Staat, der Beistand für Israel zur Staatsräson erklärt hat.

Dieses Dilemma wird durch die Absicht von EU-Staaten wie Spanien und Irland und des NATO-Mitglieds Norwegen verstärkt, noch im Mai einen palästinensischen Staat anzuerkennen. In Bälde folgen könnten Slowenien, Malta und Belgien. Diesen Schritt bereits vollzogen haben Zypern (1988) und Schweden (2014). Deutschlands Position – erst müssten sich Israelis und Palästinenser in einem Friedensprozess einigen, ist an Absurdität und – man muss es leider sagen: Irreführung – kaum zu übertreffen. Ist nicht jeden Tag zu vernehmen, dass die israelische Regierung eine Zweistaatenlösung ablehnt und mit nahezu allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft. Verhandlungen sind verpönt. Es gibt sie seit Jahrzehnten nicht mehr. Also worauf warten?

Aber je mehr westliche Länder einen palästinensischen Staat anerkennen, desto größer wird der diplomatische Druck auf Israel, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Was ist so schwer daran zu verstehen, dass dies ein besserer, vor allem friedvollerer Weg sein kann, um Gewaltexzessen und einer Radikalisierung der Palästinenser vorzubeugen? Ist das nicht für die Sicherheit Israels von Vorteil?

Die neuerliche Entscheidung des Internationalen Gerichtshof muss umgesetzt werden, dazu ist Israel als Mitglied der Vereinten Nationen verpflichtet. Wird das unterlassen, kann das nur internationaler Isolation Vorschub leisten. Dies trifft dann auch auf all jene Staaten zu, die das unterstützen oder hinnehmen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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