Simon Sahner: „Beim Lösen der Knoten“. Über Krebs sprechen
Krankheit Simon Sahner hat in „Beim Lösen der Knoten“ seine eigene Erkrankung verarbeitet. Wenn es schmerzhaft wird – erkenntnistheoretisch –, legt er den Schalter um und widmet sich der kulturwissenschaftlichen Analyse. Das ist unbedingt lesenswert
Das Bild, das wir mit dem Krebs verbinden, zeugt eigentlich von seiner Therapie
Foto: Sergey Filimonov/Stocksy
Der Krebs ist der Feind im eigenen Körper, er ist bösartig, er ist eine Metapher. Wer den Krebs beschreibt, wer sich ihm widmet, als Überlebender und Erleidender, der muss sich mit dem Metaphernwust auseinandersetzen, der die Erkrankung umgibt. Dieser Herausforderung stellt sich Simon Sahner in seinem Buch Beim Lösen der Knoten, das zwischen autobiografischem Erfahrungsbericht und kulturwissenschaftlichem Essay changiert und fragt, wie wir den Krebs erzählen.
Sahners Krebsleiden hat eine ungewöhnliche Geschichte. Er ist kaum 18, da wird bei ihm ein Knietumor festgestellt; es handelt sich um eine Fehldiagnose, wie sich später herausstellt. Doch neun Jahre später entwickelt sich am Knie tatsächlich ein Tumor, der als bösartig eingestuft wird u
g eingestuft wird und mitsamt dem Kniegelenk entfernt werden muss. Sahner, der gerade an seiner Dissertation arbeitet und frisch verliebt ist, muss sich einer Chemotherapie unterziehen. Sein Leben, so scheint es, verändert sich radikal. Er erlebt die „Übersiedelung“ vom Reich der Gesunden ins Reich der Kranken; er überlebt die Erkrankung und kann davon erzählen. Und kann deswegen auch die Erzählung von der lebensverändernden Diagnose befragen.Von Anfang an kreist der Text um Differenz zwischen dem eigentlichen Erleben oder Erleiden und dem Erzählen über jenes Leiden. Kaum eine Krankheit hat solch ein detailliertes Narrativ erzeugt wie der Krebs. In ungezählten Filmen, Romanen und Memoirs wird er beleuchtet. Sahner zeigt am Beispiel der Erfolgsserie Breaking Bad, wie stark sich das Bild von der Diagnose verselbständigt hat. Es braucht nur wenige Bildcodes, damit der Zuschauer begreift: Hier erhält ein Mann die Diagnose „Krebs“. Es gibt einen Moment der tragischen Erkenntnis, die einen absoluten Wendepunkt darstellt. Danach ist nichts mehr so, wie es einmal war.Die kulturelle Erzählung vom Krebs sagt ihm, wie er sich fühlen sollAber so fühlt es sich für Sahner nicht an. Er erlebt ja zweimal den Moment der Diagnose (die Wiederholung der Diagnose lässt die Tragödie beinahe in eine Farce abrutschen). Die Diagnose verändert sich, das Erleben bleibt dasselbe: „Seitdem war mir gesagt worden, ich hätte vermutlich einen gutartigen Knochentumor, ich hätte mit Sicherheit einen bösartigen Tumor, ich hätte einen niedriggradig malignen Tumor und nun, dass ich tatsächlich einen hochgradig malignen Tumor hätte, der vielleicht schon Mikrometastasen gestreut hätte. Ich nahm jede dieser Aussagen hin, akzeptierte sie als einen Fakt und versuchte sie auf mein Körperempfinden zu übertragen. Das aber veränderte sich nicht. Ich wusste, ich hatte Krebs, ich verstand es aber nicht.“Die kulturelle Erzählung vom Krebs sagt ihm, wie er sich fühlen soll, aber er fühlt’s nicht. Die tragische Pointe, so Sahner, besteht darin, dass das Bild, das wir mit dem Krebs verbinden – die fahle Haut, der haarlose Körper, die absolute körperliche Schwächung –, das Ergebnis seiner Therapie ist. Plastisch, aber ohne extreme Drastik beschreibt Sahner, wie es sich anfühlt, wenn dem Körper giftige Medikamente zugeführt werden, die natürlich nicht nur die Krebszellen abtöten. Alle Zellen, die sich schnell teilen, sind betroffen. Erst die Krebstherapie fesselt den Patienten ans Bett für die aggressiven Infusionen, auf die sein Körper mit Übelkeit und Erbrechen reagiert – aber auch mit einer gesteigerten Sensibilität. Gerüche erzeugen Übelkeit, Farben wirken aggressiv, sogar die Wäsche wird unerträglich kratzig. All das erlebt der Kranke auf einer Station, die den Erkrankten von der entkoppelten Wirklichkeit vor den Türen des Krankenhauses entfremdet. „Krebsstationen sind wie die Krankheit, die auf ihnen behandelt wird: Ruhig, auf den ersten Blick unscheinbar und das Kranke spielt sich meist im Unsichtbaren ab. Oft geschieht dort lange nichts, nur die Körper werden still ausgezehrt und die Gerüche von parfümloser Seife, gestärkter Wäsche, aufgewärmtem Kantinenessen, Desinfektionsmitteln und kranken Körpern hängen in der Luft.“Da, wo es zu schmerzhaft werden könnte – erkenntnistheoretisch –, legt Sahner den Schalter um und widmet sich der kulturwissenschaftlichen Analyse. Das ist sein intellektuelles Zuhause, schließlich ist er Herausgeber und Redakteur beim Online-Feuilleton 54books. Mühelos wechselt er zwischen den Registern der biografischen Erzählung und der Analyse von Serien und Tagebüchern.Arbeit, Struktur, MetapherWer über Krebs schreibt, stellt sich in eine Reihe mit großen Autoren und Autorinnen, natürlich kommt man nicht umhin, an Susan Sontags Krankheit als Metapher oder Wolfgang Herrndorfs Tagebuch Arbeit und Struktur (der Freitag 34/2023) zu denken, die Sahner ausführlich zitiert. All diese Texte vereinigen sich zum großen Metatext über den Krebs. Und die Erkenntnis: Keine zwei Erkrankungen sind gleich, so sinnvoll es scheinen mag, bei den anderen Erkrankten nach geteilten Erfahrungen zu suchen – nicht immer bietet die Erzählung Trost, im Gegenteil. Gerade weil die Erzählung über „den Krebs“ so dominant ist, wird jede abweichende individuelle Erfahrung zum schmerzhaften Beweis, dass jeder Mensch individuell (und ganz allein) leidet. „Ich weiß, wie sich ein Körper anfühlt, der sich Widerständen gestellt hat, der gegen und mit etwas gekämpft hat, der etwas davongetragen hat, der ein anderer geworden ist.“Simon Sahner hat ein kluges und vielschichtiges Buch über die Krankheit Krebs geschrieben. Obendrein eines, das das dichte Gewebe aus Erzählung über die und Erfahrung mit der Krankheit vorsichtig auftrennt und untersucht. Die vielleicht zentrale Erkenntnis dieses Textes lautet, dass es keinen schärferen Kontrast gibt zwischen der Sprache der Krankheit, wie sie die Medizin spricht, und der Sprache der Erkrankung, die von Betroffenen gesprochen wird. Was eine Krebserkrankung wirklich bedeutet, kann die Sprache der Medizin jedenfalls nicht vermitteln. Sahners Buch aber kann es. Das macht es unbedingt lesenswert.