Nicht mehr die Demokratie, die wir kennen

Corona Die Krise zeigt, wie schnell der Notstand vor der Tür steht und Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können
Ausgabe 14/2020
Von der Klimakrise sind die Politiker im Bundestag nicht unmittelbar betroffen, von der Coronakrise schon. Dreht sich wirklich immer erst dann wirklich etwas?
Von der Klimakrise sind die Politiker im Bundestag nicht unmittelbar betroffen, von der Coronakrise schon. Dreht sich wirklich immer erst dann wirklich etwas?

Foto: Imago Images/photothek

Das Grundgesetz, wird es von der Corona-Krise in Mitleidenschaft gezogen? Wenn man FDP-Chef Christian Lindner reden hört, kann man es glauben. Mit dem Ausnahmezustand, den Bund und Länder am 27. März ausgerufen haben, sind substanzielle Bürgerfreiheiten außer Kraft gesetzt, vor allem die Versammlungsfreiheit.

Rechtsbasis ist zunächst das Infektionsschutzgesetz, in dem man lesen kann, dass mit derselben Begründung, die die Versammlungsfreiheit aufzuheben erlaubt, nämlich dass Kranke, „Krankheitsverdächtige“ oder „Ansteckungsverdächtige“ festgestellt werden, auch die Grundrechte der Freiheit der Person und der Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden können.

In diesen Katalog ist die Freizügigkeit noch nicht aufgenommen, das am 27. März beschlossene „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ fügt sie aber hinzu. Eine weitere Veränderung gegenüber dem bisherigen Infektionsschutzgesetz liegt darin, dass es immer wieder heißt, einer Zustimmung des Bundesrats bedürfe es nicht, bisher war alles an diese Zustimmung gebunden. Die neue Ermächtigung allein der Bundesexekutive hatten etliche Medien gefordert.

Wenn man noch bedenkt, dass die Inkubationszeit von COVID-19 mit zwei Tagen bis zwei Wochen angegeben wird und also ausnahmslos alle Bürgerinnen und Bürger immerzu krankheits- oder ansteckungsverdächtig sind – und das auf lange Zeit, weil die Epidemie, wenn sie abflachen sollte, doch „in einer zweiten Welle“ wiederaufleben könnte –, dann muss man sagen: Es ist nicht mehr die Demokratie, die wir kennen.

Nun stimmt kaum jemand der Veränderung nicht zu, denn die Gefahr ist real und wir sehen das ein. Dennoch, sie regt zum Nachdenken an. Statt „Ausnahmezustand“ könnte man auch „Notstand“ sagen, und dann würde man sehen: Nicht alles, was zu diesem zu sagen ist, ist im Grundgesetz geregelt. Im Grundgesetz geht es nur um die Frage, wie ein organisierter, womöglich bewaffneter Aufstand gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung niedergeschlagen werden kann. Einer solchen Gefahr entgegenzutreten, dafür hat kein einfaches Gesetz genügt. Aber auch im Fall des Infektionsschutzes kann das Grundgesetz stark eingeschränkt werden, und nun auf Basis eines einfachen Gesetzes. Dem entspricht ein anderer Unterschied: Der im Grundgesetz vorgesehene Notstand ist dazu da, einen Teil der Bevölkerung, den aufständischen, zu unterdrücken; der Infektions-Notstand liegt im Interesse der Bevölkerung und wird von ihr unterstützt.

Wie ist es denn aber um die ökologische Krise bestellt, die um ein Vielfaches gefährlicher ist als die Corona-Krise? Mit ihr geht die politische Klasse recht sorglos um, wahrscheinlich weil deren Mitglieder sich sagen, dass es sie persönlich nicht trifft. Die Corona-Krise zeigt jedenfalls, dass auch hier ein einfaches Gesetz genügen würde, diesmal um die kapitalistische Ökonomie am erdfeindlichen Durchmarsch zu hindern. Auch ein solcher Notstand könnte nur ausgerufen werden, wenn die Bevölkerung ihn freiwillig mittrüge. Die Politik bereitet ihn aber nicht vor: Das ist skandalös.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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