Atatürks Soldaten: Die türkische Opposition ist zurück

Meinung Bei den türkischen Kommunalwahlen hat die oppositionelle CHP einen überraschenden Sieg errungen. In Istanbul stellt sie weiterhin den Bürgermeister, neue Städte kamen hinzu. Drei Gründe, warum die Freude darüber zu früh sein könnte
Ausgabe 14/2024
CHP-Anhänger feiern in Ankara
CHP-Anhänger feiern in Ankara

Foto: Yasin Akgul/AFP/Getty Images

„Revolution an der Urne“, „Historischer Sieg“, „Rot steht dir so gut“: Oppositionsnahe Zeitungen in der Türkei überschlugen sich am Montag nach der Kommunalwahl mit Triumphschlagzeilen. Die Karte mit den nach Parteifarben eingefärbten Städten und Provinzen, zum ersten Mal seit 22 Jahren ist sie überwiegend CHP-rot statt AKP-gelb. Noch am Sonntagabend füllten enthusiastische Anhänger der sozial-republikanischen CHP in vielen Städten die Straßen, schwenkten Fahnen, sangen kemalistische Märsche. Kein Wunder: 35 von 81 Bürgermeisterposten gingen an sie, die Regierungspartei AKP kam nur auf 24.

Dabei hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan alles versucht. Hatte, ohne Kandidat zu sein, täglich mehrere Wahlveranstaltungen absolviert und sogar seine Minister auf den Plan gerufen. 17 von 18 Kabinettsmitgliedern machten aktiv Wahlwerbung für die Kandidaten der Regierungsparteien. „Du verlierst die Wahl und merkst es nicht einmal“, sagte etwa Justizminister Yılmaz Tunç über den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu (CHP), ausgerechnet der Mann also, der den rechtsstaatlichen Ablauf der Wahl beaufsichtigt.

Wenn Recep Tayyip Erdoğan zuletzt lacht

Sicher: Über Erdoğan und seine Gangstermethoden kann man sich herrlich aufregen. Man kann in Schadenfreude darüber ausbrechen, wie selbst er die Niederlage zugeben und Selbstkritik versprechen musste. Man kann sich Hoffnungen für die Präsidentschaftswahlen 2028 machen. Es gibt allerdings drei unangenehme Wahrheiten.

Erstens sind es vier Jahre bis zur nächsten Wahl. Eine lange Zeit für die Türken, die in den letzten sieben Jahren fünf Mal an die Urne gebeten wurden. Wenn seine Gegner inzwischen eines über Recep Tayyip Erdoğan gelernt haben sollten, dann, dass er zuletzt lacht. Von den Gezi-Protesten 2013 über den Putschversuch 2016 bis zum Kopf-an-Kopf-Rennen um die Präsidentschaft 2023 gab es viele Momente, in denen es knapp wurde für den Palastbewohner aus Kasımpaşa. Aus jeder Bredouille schaffte er es hinaus, manchmal gestärkt. Mit seiner vermittelnden Rolle in den aktuellen geopolitischen Verwerfungen wird er in den kommenden Jahren im internationalen Rampenlicht stehen. Die Türkei als starke Kraft, die verfeindete Großmächte an einen Tisch holt: Viele der neu abgesprungenen Wähler könnte das zurückholen.

Die zweite Wahrheit ist gleichzeitig der Grund, warum die AKP überhaupt so eingebrochen ist: die Wirtschaft. Erst im vergangenen Juni hatte Erdoğan den früheren Finanzminister Mehmet Şimşek zurück ins Amt geholt, der das Volk mal mehr, mal weniger offen zum enger geschnallten Gürtel aufruft. Viele Beobachter rechnen mit Steuererhöhungen in den kommenden Monaten, die im Dauerwahlkampf der letzten zwei Jahre unmöglich waren. Experten sprechen von „bitterer Medizin“, um die galoppierende Inflation zu stoppen.

Und schließlich bleibt eine letzte Wahrheit essentiell. Die CHP ist keine humanistische, fortschrittliche Kraft. Die Kemalisten stehen in einer streng militaristischen Tradition und unterstützen die völkerrechtswidrigen Angriffe auf die kurdischen Gebiete in Syrien und Irak. Sie hetzen gegen Geflüchtete und bleiben ihrer mythischen Überhöhung der türkischen Nation und des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk treu. Es mag Erdoğan sein, der für Juni die nächste türkische Invasion im Nordirak plant. Aber es ist ein kemalistischer Slogan, der im Siegestaumel am Sonntagabend auf den Straßen ertönte: Mustafa Kemal’in askerleriyiz – Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

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