Ja, er habe Céline mit vielen Nachrichten belästigt, um sie von der Scheidung abzubringen. Und am Ende eines „heftigen, beiderseits sehr aggressiv geführten Streits“ habe er sie geohrfeigt, gestand Adrien Quatennens im langen Rücktrittsschreiben als Koordinator der Union Populaire. Quatennens war ein aufsteigender Stern für Frankreichs ökosozialistische Koalition NUPES. Ein Idol der Generation Mélenchon, so der Titel seines Buches von 2021. In der Obdachlosenbewegung und bei Attac sozialisiert, Abgeordneter mit 27, zuletzt glänzend wiedergewählt, führte der Angestellte des Stromversorgers EDF ein furchtloses, oft kompetentes Wort. Ein organischer Intellektueller. Umso tiefer ging der Schock über die häusliche Gewalt in
he Gewalt in einer Bewegung, die den Kampf gegen jede Form von Unterdrückung führt und gegen einen Kapitalismus, den sie längst als patriarchalisch identifiziert hat. Auch Bayou muss gehenEigentlich sollte es für die NUPES ein Herbst des Furors gegen die Zumutungen des Präsidenten Emmanuel Macron werden. Gegen die monströsen Krisenprofite der Konzerne und das teure Leben. Gegen Macrons Passivität in der Klimafrage und die beschleunigte Zerstörung der Sozialversicherungen wie des Rentensystems. Nun allerdings musste sich die NUPES erst einmal mit sich selbst beschäftigen. Kaum war Quatennens zurückgetreten, geriet Grünen-Chef Julien Bayou unter Verdacht, eine frühere Freundin psychologisch misshandelt zu haben. Im Twitter-Sturm ging auch er unter.Für viele Frauen war das doppelt bitter. In langen Auseinandersetzungen hatten sie die linke Politik feministisch gewendet, Parität in allen Führungsgremien als Norm durchgesetzt. Die Partei La France Insoumise (LFI) ist kein Boys Club mehr wie die trotzkistischen und sozialistischen Vorläuferorganisationen, in denen die „Frauenfrage“ als „Nebenwiderspruch“ abgetan wurde. Die LFI-Parlamentsfraktion wird von der streitbaren Mathilde Panot angeführt, das interne NUPES-Parlament leitet die frühere Attac-Präsidentin Aurélie Trouvé, Präsidentin der Linken im EU-Parlament ist LFI-Frau Manon Aubry. Und die brillante Öko-Feministin Clémentine Autain gilt als aussichtsreiche Kandidatin für die Nachfolge von Parteichef Jean-Luc Mélenchon. LFI wie Grüne verfügen über Gremien gegen sexistische und sexuelle Gewalt (VSS), die in den vergangenen beiden Jahren über 30 Männer sanktioniert haben.Je nach Temperament frustriert, geschockt oder wütend reagierten deshalb nicht nur die NUPES-Frauen auf einen Tweet von Mélenchon nach dem Rücktritt von Quatennens. Der Leader geißelte den Voyeurismus der Medien und die Indiskretion der Polizei (Céline hatte um Vertraulichkeit gebeten), lobte aber Adrien Quatennens’ „Mut und Würde“: „Er nimmt alles auf sich.“ Eilig musste LFI klarstellen, die Priorität liege beim Kampf gegen männliche Gewalt. Autain, Panot und weitere Militante nahmen Mélenchon in ein kollektives Gebet.Mag sein, väterliche Zuneigung hat Mélenchon den Blick verstellt, als er gegen sich selbst argumentierte. Der „feministischen Revolution“ weist er seit Jahren eine zentrale Rolle zu, sexistische Verbrechen nennt er „absolute Barbarei“. Gern erzählt er, wie Gespräche mit der Philosophin und Résistance-Kämpferin Colette Audry ihm „das Patriarchat als Herrschaftsform sichtbar gemacht hatten, die jede politische Ordnung fundiert“. Und Mélenchons Praxis, etwa seine zahlreichen Vorstöße für die Gleichstellung, ist aktenkundig.Egal, sein Tweet entfesselte einen Sturm. 500 Frauen unterzeichneten unter dem Hashtag „RelèveFéministe“ ein Manifest: „Als Partei mit feministischem Programm wäre es eure Aufgabe, die Opfer zu verteidigen. Wenn ihr das nicht besser könnt, ist es Zeit abzutreten.“250 Vergewaltigungen täglichSpätestens da wurde deutlich, dass Mélenchon zweier Dinge nicht recht habhaft wurde. Gewiss ist eine Ohrfeige keine Vergewaltigung, doch sie bleibt Gewalt. Zwar ist in der Assoziation von Mann und Frau – genauer: aller Geschlechter – manches nicht immer eindeutig. Eros und Macht sind bizarre Vettern, und der Vorwurf sexueller Gewalt ist zum politischen Totschlagargument geworden. Nur hebt keiner dieser Einwände den Fakt auf, dass sich Quatennens’ (eingestandene) Geste in ein Kontinuum männlicher Gewaltherrschaft einreiht, mit 250 Vergewaltigungen täglich, Hunderttausenden von geprügelten Frauen und 173 Frauenmorden 2019 allein in Frankreich. Mit einer Polizei, die Opfer oft abweist. In einer Gesellschaft, die 30 Jahre lang einen Serienvergewaltiger als TV-Starmoderator feierte und in der Präsident Macron einem Innenminister unter Nötigungsverdacht „von Mann zu Mann“ das Vertrauen hält. Aber von den Rechten erwarten die Frauen auch nichts Besseres.Dem sonst so klarsichtigen Mélenchon könnte entgangen sein, meint die Feministin Caroline De Haas im Brief-Blog „Cher Jean-Luc“, dass in der großen anthropologischen Umwälzung der Geschlechterverhältnisse eine neue Epoche angebrochen ist. Meist jüngere Frauen und Männer, eben die Generation Mélenchon, stehen bereit, auf die erste feministische Revolution eine weitere folgen zu lassen. Sie verstehen Herrschaft als Überlagerung von Klasse, Geschlecht, Rasse, Ökologie, die nur als Ganzes aufgehoben werden kann.Derweil wird Eric Coquerel, Präsident der parlamentarischen Finanzkommission, vorgeworfen, bei einem Tanzabend vor acht Jahren insistierend um die Gunst einer Genossin gebuhlt zu haben. Das LFI-Urgestein reagiert auf das Unbehagen zwischen linken Männern und Frauen so: „Es ist eine Revolution, die uns allen guttut. Sie kann, wie das bei Revolutionen manchmal geschieht, Ungerechtigkeiten produzieren. Das gehört dazu.“