Frankreich/Gaza: Schläft die Vernunft, erwachen die Monster
Gereizte Stimmung Innenminister Gérald Darmanin lässt sämtliche Pro-Palästina-Meetings verbieten und gibt Order, sie notfalls aufzulösen und die Organisatoren zu verhaften. Präsident Macron kann seinen autoritären Regierungsstil vertiefen
Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin (l.) mit Verteidigungsminister Sébastien Lecornu am 12. Oktober in Paris
Foto: Rapfaehl Lafargue/Abacapress/dpa
In den Vorstädten heißt er nur „KB9“. Karim Benzema – 35 Jahre alt, Weltfußballer des Jahres 2022 – ist in der Banlieue von Lyon als Kind algerischer Eltern aufgewachsen. Bei Real Madrid sagte man, er gewinne in Smoking und polierten Schuhen. Für die Nationalelf hat Benzema 38 Tore geschossen. Am 18. Oktober nun schrieb er in einem Tweet: „Ich bete für die Menschen in Gaza, die einmal mehr Opfer dieser ungerechten Bombardierungen werden, von denen weder Frauen noch Kinder verschont sind.“ Sogleich stürmte Innenminister Gérald Darmanin vor die Kameras des Nachrichtensenders CNews, der dem rechtsextremen Milliardär Vincent Bolloré gehört: „Herr Benzema, das wissen alle, ist mit den Muslimbrüdern
rn verbunden.“ Also ein Terrorist, der sich als Kicker tarnt? Belege? Wer braucht schon Belege? Man wisse es einfach, sagte Darmanin, und überhaupt sei Benzema Muslim, er bete, er faste und wolle die Pilgerfahrt nach Mekka antreten. Das sei Beweis genug.Gunst der StundeMinister Darmanin lügt und unterstellt mit Lust. Hauptsache, er macht den Buzz. Präsident Emmanuel Macron würde sich einen Satz wie „Alle Muslime sind Terroristen“ nie erlauben, bei gut neun Millionen Mitbürgern dieses Glaubens. Darmanin dagegen findet eine mundgerechte Verkürzung, um genau dies zu sagen, in Halbsätzen, die alle verstehen, die vierte Generation der Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien inklusive.So war die Hatz eröffnet. Die Partei Les Républicains forderte, Benzema die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen nannte ihn „einen dieser vielen Papierfranzosen“. Der Neofaschist Éric Zemmour, Präsidentenbewerber 2022, erkannte sogar eine „direkte Verbindung“ Benzemas zur Ermordung des Lehrers Dominique Bernard am 13. Oktober durch einen radikalisierten früheren Schüler, dessen Eltern aus dem russischen Inguschetien geflohen waren. Wer anspricht, was sogar in Israel unter Benjamin Netanjahu noch kontrovers diskutiert werden kann – „Besatzung in der Westbank“, „koloniale Verhältnisse“ –, wird in Frankreich mit Verboten und Polizeigewalt traktiert. Darmanin wies die Präfekten an, sämtliche Pro-Palästina-Meetings zu verbieten, notfalls aufzulösen, die Organisatoren zu verhaften. Der Verfassungsrat rief ihn schmallippig zur Ordnung, daraufhin demonstrierten in Paris 20.000. In Marseille ließ Darmanin die linke palästinensische Feministin Mariam Abou Daqqa, die zu einer Vortragsreise eintraf, zusammen mit ihrem Freund von der jüdischen Friedensbewegung in Abschiebegewahrsam nehmen. Und wegen eines Flugblatts holten zehn schwer bewaffnete Polizisten morgens um sechs ein führendes Mitglied der Gewerkschaft CGT aus der Wohnung. Vorwurf: „Verherrlichung von Terrorismus“.Die Medien haben den Kampfanzug übergestreift. Wohlmeinende Kommentatoren deuten Darmanins Kulturkriegs-Aktivismus als Kollateralschaden der fürchterlichen Hamas-Verbrechen vom 7. Oktober. Tatsächlich geht der Schock in Frankreich tief, frühere islamistische Attentate wirken nach, doch enthüllt die Unterdrückung jeder Debatte eine andere Logik. Präsident Macron hat Netanjahu „bedingungslose Unterstützung“ zugesagt. Bedingungslos? Lange vorbei die Zeiten, da Paris vermittelte, klugen Köpfen aus der arabischen Opposition Unterschlupf bot und 2003 die Beteiligung am Irak-Krieg verweigerte. 15 Jahre ist es her, dass der Figaro ein Interview mit dem später getöteten Hamas-Chef führte, in dem dieser Frankreich händeringend um Hilfe bei einer politischen Lösung bat. Heute tauscht Macron Küsschen mit dem saudischen Herrscher Mohammed bin Salman. Um die Palästinenser wird sich Israel schon kümmern. Macron nutzt die Gaza-Debatte auch für seine innenpolitische Agenda. Gegen den brachial neoliberalen Umbau wird revoltiert, zuletzt mit monatelangen Protesten gegen die Rentenreform oder im Juli mit dem Aufstand der Vorstadtjugend. Darmanin baut dem Staatschef mit Ausfällen gegen Muslime und Flüchtlinge, einem verschärften Immigrationsgesetz und einem Verbot linker und ökologischer Organisationen („Ökoterroristen“) eine Brücke zur extremen Rechten.Mit Floskeln wie der vom „atmosphärischen Dschihadismus“ hofft Macron seinen Umbau beschleunigen zu können. Als es sein Erziehungsminister bei Schulbeginn im September nicht schaffte, vor jede Klasse einen Lehrer zu stellen, weil die öffentlichen Schulen kaputtgespart werden, verbot der Minister die Abaya – weite Umhänge, die er als „islamistisches Kleidungsstück“ identifizierte. Plötzlich war der Personalmangel kein Thema mehr, die „Kleiderpolizei“ vor den Schulen schloss mehrere Dutzend Schülerrinnen aus, die Diskriminierung nahm Fahrt auf. Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Jedes Kind in den Vorstädten versteht die variable Geometrie der Affekte, in Gaza wie in Frankreich. Es ist ein Feuer, an dem sich die Macronisten zu wärmen hoffen: Je schärfer die Spannungen, desto leichter lässt sich autoritär regieren.Die Einzigen, die das beenden könnten, um die Rechtsextremisten 2027 daran zu hindern, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, sind die in der Nupes zusammengeschlossenen Linken – Grüne, Sozialisten, Kommunisten. Leider zerbricht diese Allianz unter den Hammerschlägen des Präsidenten. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel verurteilte Nupes-Gründer Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise/LFI) die Massaker an israelischen Zivilisten als „Kriegsverbrechen“, weigerte sich aber, von „Terrorismus“ zu sprechen. Das sei eine apolitische Kategorie, sie negiere Konflikte, blende Vorgeschichte, Ursachen und Spannungen aus – vor allem verbaue sie jede Lösung. In der aufgeheizten Stimmung stellten daraufhin Sozialisten und KP die Zusammenarbeit ein, die Grünen lavierten. Befragt man die Köpfe dieser Parteien, wird schnell klar, dass Palästina nur ein Vorwand ist. Die KP wollte schon lange weg, sie ertastet gerade einen nationalistisch-identitären Pfad. Ein starker Teil des schwer angeschlagenen Parti Socialiste fühlt sich ohnehin dem Bürgerblock zugehörig. Gaza ist weit weg.
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