„Die Bevölkerung verunsichern, den Kreml unter Druck setzen und russische Truppen binden“ – so fasste Nikita Gerasimov Anfang Juni im Freitag die Ziele Kiews zusammen, als erstmals exilrussische Kämpfer der ukrainischen Armee ins russische Mutterland vordrangen. Solche Angriffe wurden danach fortgesetzt, vor allem in der Grenzregion Belgorod.
Parallel verstärkten sich ukrainische Drohnenangriffe auf das russische Hinterland bis nach Woronesch, etwa 500 Kilometer hinter der Grenze. Grenzgebiete wurden mit Artillerie beschossen, all das im Zusammenhang mit der kurz danach anlaufenden ukrainischen Gegenoffensive. Natürlich darf nicht verschwiegen werden, dass im gleichen Zeitraum auch der russischen Invasor der Ukraine Gebiete hinter der Front beschoss
darf nicht verschwiegen werden, dass im gleichen Zeitraum auch der russischen Invasor der Ukraine Gebiete hinter der Front beschoss – etwa am 14. Juni starben in der Hafenstadt Odessa bei einem russischen Raketenangriff drei Menschen. Doch neu am aktuellen Kriegsgeschehen ist, dass auch in unstrittig russischem Gebiet die Zivilbevölkerung nicht mehr sicher leben kann.Ukrainische Angriffe auf Russland, so hört man von westlichen Experten, seien eindeutig vom Völkerrecht gedeckt, da ja die Ukraine das im Februar 2022 heimtückisch überfallene Volk ist. „Im Prinzip sind Angriffe der Ukraine auf russischem Gebiet legal“, meint etwa Barry de Vries von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Doch bedeutet legal auch gerechtfertigt und sinnvoll? Immerhin gleicht neues Unrecht größeres Unrecht der Gegenseite nicht aus. Das Leid des eigenen, ukrainischen Volkes wird nur gemindert, wenn die Angriffe auf das Staatsgebiet des Gegners einen kriegsverkürzenden Effekt haben – sonst sind sie nur eine Form der Rache.Hier muss man sagen, dass diese Angriffe vom strategischen Standpunkt aus ein Fehlschlag sind. So gelang es nicht, größere russische Truppenteile über die Überfälle auf das Grenzgebiet aus der Front herauszuziehen. Stattdessen setzt die russische Armee Einheiten ein, die man aus Rücksichtnahme auf die Stimmung in der eigenen Bevölkerung bei der Invasion im Nachbarland weitgehend verschonte: Solche mit russischen Wehrpflichtigen. Putin selbst gab bei einem Treffen mit prorussischen „Militärkorrespondenten“ am 13. Juni zu Protokoll, dass er beim Gespräch mit einem Bataillonskommandeur bei Belgorod erfahren habe, dass dessen Kämpfer sogar ausschließlich aus Wehrpflichtigen bestünden. Gefallene unter Wehrdienstleistenden durch ukrainischen Beschuss auf die Belgorodregion sind ebenfalls dokumentiert.Der Kreml nimmt in Kauf, dass die Kampfkraft dieser Einheiten wesentlich geringer ist, als die von Zeit- oder Berufssoldaten. Schon beim ersten großen Überfall auf russisches Gebiet taten sich diese Truppen schwer, die eindringenden Exilrussen im ukrainischen Dienst wieder aus dem eigenen Land zu vertreiben. Aber während ein Einsatz dieser Zwangssoldaten bei der Invasion Unruhe in der Bevölkerung hervorrufen würde (und kurzfristig zu Invasionsbeginn auch hervorrief), wird er zur Verteidigung des eigenen Staatsgebietes von den Russen akzeptiert. Pro Jahr wird etwa eine Viertelmillion junger Männer in Russland zum Wehrdienst einberufen, sodass der Nachschub an entsprechenden Rekruten nicht ausgehen wird.Russische Bevölkerung unterstützt PutinSo bleibt also noch das zweite Ziel der ukrainischen Attacken: die Verunsicherung der russischen Bevölkerung und Schwächung der Macht des Kreml. Hier sieht das Ergebnis außerhalb des unmittelbaren Grenzgebiets, in dem natürlich Panik herrscht, sogar umgekehrt aus wie erhofft.Würde eine Verunsicherung der Bevölkerung großflächig drohen, kann beim stark repressiven russischen Staatsapparat davon ausgegangen werden, dass Berichte über diese Angriffe inzwischen für die Presse genauso verboten wären, wie solche über russische Kriegsgräuel oder ukrainische Erfolge. Das ist aber nicht der Fall. Die russischen Staatsmedien bis zu den berüchtigten TV-Talkshows stürzen sich wie Hyänen auf diese Angriffe und jeden entstandenen Zivilschaden.Denn hier lässt sich für die Propagandisten des Kreml und ihre Helfer sehr einfach eine Täter-Opfer-Umkehr beim Ukrainekrieg herstellen. „Seht her, die Kiewer beschuldigen uns für alles mögliche. Sie beschießen derweil unser Grenzgebiet, töten und verletzen unsere zivilen Landleute“, lässt sich der Grundtenor dieser tief einseitigen Berichterstattung zusammenfassen. Da viele Russen durch die strenge Zensur abgeschnitten sind von ausgewogenen Kriegsberichten, verfängt diese Lagedarstellung in der breiten Leserschaft, und in der Tat führen die ukrainischen Angriffe dazu, dass sich die Russen eher mehr um ihre Führung scharen, als weniger. Man fühlt sich angegriffen und steht zusammen.Das hat sich auch bis zum Kremlchef herumgesprochen. Putin gibt im Gespräch mit den Militärkorrespondenten die Lage offen zu und spricht davon, dass es nötig sei „unsere Bürger zu schützen“. Er fordert hier die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone auf ukrainischem Gebiet. Dies wäre natürlich nur möglich durch eine Invasion neuer ukrainischer Regionen. So schaffen die Angriffe Rechtfertigung für neue russische Aggression. Bei einem anderen Pressetermin war sich Putin nicht zu schade, angesichts eines ukrainischen Bombardements zu bemerken, dass der Beschuss von Wohngebieten allgemein „sinnlos“ sei. Einen Tag später zerstörten russische Marschflugkörper ein Wohngebiet in der ukrainischen Stadt Krywyj Rih, wobei zehn Menschen starben. Die Leser russischer Zeitungen werden das nie erfahren.Es ist verständlich, dass beim Kampf gegen einen solchen Gegner bei den Ukrainern Rachegelüste aufkommen. Doch wenn aus Rache trotz fehlender Erreichung anderer Ziele Angriffe auf Zivilisten im russischen Grenzgebiet fortgesetzt werden, ist das keine Selbstverteidigung. Notwehr erst recht nicht.