Wenn es bisher zu keiner erneuten Waffenruhe im Gaza-Krieg gekommen ist, liegt das mutmaßlich an der Hamas-Position, die Rückkehr der israelischen Geiseln nur in Aussicht zu stellen, wenn weitere in israelischen Gefängnissen sitzende Palästinenser freigelassen werden. Das zuzugestehen, fällt der Regierung Benjamin Netanjahu sehr viel schwerer als beim ersten Gefangenenaustausch. Die Hamas will Menschen befreien, die ein politisches Profil haben, aber von Israel als Terroristen gesehen werden. Für Benjamin Netanjahu ist es derzeit undenkbar, den Konflikt als einen politischen und mögliche Verhandlungspartner für eine politische Lösung anzuerkennen.
Geeignet, um Mahmud Abbas und Ismail Haniyeh zu ersetzen
Zum Beispiel einen wie den 64-jährigen
Zum Beispiel einen wie den 64-jährigen Marwan Barghuthi, den populärsten palästinensischen Gefangenen. Er gilt als Integrationsfigur für die verfeindeten Fraktionen der laizistischen Fatah und der islamistischen Hamas. Kaum jemand wäre als Führungsfigur geeigneter, Mahmud Abbas und Ismail Haniyeh zu ersetzen. Barghuthi wäre als Präsident eines neben Israel zu gründenden Palästinenser-Staates ebenso denkbar wie in der Doppelspitze eines binationalen Staates.Geboren wurde Marwan Barghuthi am 6. Juni 1959 bei Ramallah. Schon im Alter von 15 Jahren engagierte er sich als Mitbegründer der Fatah-Jugend im Westjordanland. Mit 18 wurde er wegen Zugehörigkeit zu einer angeblich terroristischen Gruppe erstmals verhaftet. Im Gefängnis machte er Abitur und lernte Hebräisch. Ein 1983 an der Bir-Zait-Universität in der Westbank begonnenes Studium der Geschichte und der Politischen Wissenschaften konnte er nicht beenden, weil er sich an der ersten Intifada (1987 – 1993) beteiligte, als palästinensische Jugendliche mit Steinen gegen automatische Waffen kämpften. Schon zu Beginn dieser Erhebung wurde Barghuthi festgenommen und nach Jordanien ausgewiesen.„Kein Terrorist, aber auch kein Pazifist“Erst 1994, nach Abschluss der Oslo-Verträge, durfte er zurück und konnte sein Studium beenden. 1996 in den palästinensischen Legislativrat gewählt, verwahrte er sich öffentlich gegen die Korruption in der Autonomiebehörde, was zu Spannungen mit Jassir Arafat führte. Das verstärkte sich im Jahr 2000, als Barghuthi den Sicherheitsdienst der Fatah, der gegen Kollaborateure vorging, anklagte, Menschenrechte zu verletzen.Seine Kompromissangebote an die Israelis waren ein Versuch, die Oslo-Verträge zu retten. Ohne Erfolg. Als dann der israelische Regierungschef Ariel Scharon provokativ das Gelände der Al-Aqsa-Moschee betrat, stand Barghuthi für energischen Protest in der Westbank. Die zweite Intifada war eröffnet, die bald in Terror der Palästinenser und Gegenterror der israelischen Besatzung mündete. Barghuthi, der 2001 einen Mordversuch des israelischen Geheimdienstes überlebte, konnte die Eskalation nicht stoppen. Er selbst und die Fatah erklärten, dass sie „Angriffe auf Zivilisten im Innern Israels, das unser künftiger Nachbar ist“, ablehnen.Friedensnobelpreisträger forderten seine Freiheit„Ich reserviere mir aber das Recht, mich zu schützen, Widerstand gegen die Besatzung meines Landes zu leisten und für meine Freiheit zu kämpfen“, sagte er 2002 der Washington Post. Das Bemühen „um eine friedliche Koexistenz zwischen gleichberechtigten unabhängigen Staaten, zwischen Israel und Palästina“ habe er nicht aufgegeben, „das heißt, den vollständigen Abzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten“. Er sei „kein Terrorist, aber auch kein Pazifist. Ich bin ein einfacher Mensch der palästinensischen Straße, der wie jeder andere Unterdrückte sein Recht verteidigt, sich selbst zu helfen, solange nicht die geringste Hilfe von außen kommt.“Wenig später festgenommen, wurde er von einem Militärgericht angeklagt, die Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden gegründet zu haben und für Selbstmordattentate verantwortlich zu sein. Obwohl er sich für nicht schuldig erklärte und die Legitimität eines Gerichtsverfahrens gegen einen palästinensischen Parlamentarier bestritt, lautete das Urteil auf fünfmal lebenslänglich. Danach wurde der Gefangene weiter in den palästinensischen Legislativrat gewählt. Aus seiner Zelle heraus versuchte er 2005, die Partei al-Mustaqbal (Die Zukunft) zu gründen, um enttäuschte Fatah-Wähler und moderate Hamas-Anhänger zusammenzuführen – eine Konkurrenz für Präsident Mahmud Abbas. Schließlich verzichtete Barghuthi auf das Projekt, um weitere Spaltungen zu vermeiden, ließ aber nicht die Absicht fallen, den Bruch zwischen Fatah und Hamas zu überwinden.Wegen dieses Ziels, aber auch wegen seines politischen Programms haben von Netanjahu geführte Regierungen Barghuthi stets als gefährlichen Feind gesehen und unablässig verleumdet. Im Moment befürchtet man wohl, dass Forderungen nach seiner Freilassung international lauter werden, denen vor Jahren nicht zuletzt acht Friedensnobelpreisträger Nachdruck verliehen. Zugunsten künftiger Friedensgespräche hatte einst Schimon Peres versprochen, Barghuthi zu begnadigen. Als er aber 2007 zum Präsidenten gewählt war, gab er dem Druck von rechts nach und unternahm nichts.Der gegenwärtige rechtsextreme Innenminister Itamar Ben-Gvir hat vorsorglich die Haftbedingungen für den „Häftling Nr. 1“ erheblich verschärft.