Ein WM-Boykott ist gar nicht so einfach: Was tun, wenn da ein Bildschirm hängt?

Glosse Feinarbeit in Sachen Moral: Die Weltmeisterschaft in Katar gucken? Geht gar nicht! Aber wo liegen die Grenzen? Wegschauen bei den Nachrichten? Unsere Kolumnistin Susanne Berkenheger hat ein paar Praxis-Tipps zusammengestellt
Ausgabe 45/2022
Wenn in unserer Lieblingskneipe Fußball läuft: Müssen wir uns dann mit dem Rücken zum Bildschirm positionieren?
Wenn in unserer Lieblingskneipe Fußball läuft: Müssen wir uns dann mit dem Rücken zum Bildschirm positionieren?

Foto: Imago/Snapshot

Viele Menschen bereiten sich derzeit energisch auf das Nichtgucken der Herrenfußball-WM vor. Dazu führen sie intensive Debatten: Was bringt mein Guckboykott? Wem nutzt er was? Ist doch egal, geht doch nicht um den Nutzen, Gucken ist einfach unmoralisch.

Klar: Für und Wider sollten genau bedacht werden, damit Sie argumentativ gut gerüstet in Ihren WM-Boykott starten. Ist ja nicht für jeden so leicht! Jetzt komm ich aber, liebe Leser, und ich muss Ihnen sagen: Das reicht vielleicht noch nicht ganz! Denn: Es soll Ihnen doch nicht so gehen wie der FIFA. Erinnern Sie sich? Als nach der mafiösen WM-Vergabe an Katar das Debakel immer mehr ins Scheinwerferlicht drängt, schreibt sie 2017 eine wunderschöne Menschenrechtsverpflichtung in ihre FIFA-Statuten hinein.

Ich nehme an, es gingen im Beratungsausschuss intensive Debatten voraus: „Menschenrechte, Leute!!! Wir müssen da was machen!“ Stöhnen, Murmeln, Einwürfe: „Hälfte der Welt hält sich eh nicht dran. Was sollen wir denn da machen?“ – „Welche Menschenrechte überhaupt? Die generellen, die arabischen oder die Kairoer?“ – „Pfff“ – „Zum Schluss können wir nirgendswo mehr hin. Ich sag’s ja nur.“ – „Wir müssen was formulieren! Los jetzt!“ – „Ich hab’s! Schreib: Die FIFA ,bekämpft diese Risiken mit angemessenen Präventions- und Linderungsmaßnahmen‘ und ‚achtet bei der Wahl des Austragungsorts auf die Menschenrechte‘.“ Allgemeines Aufatmen: „Gut gebrüllt!“ Und jetzt schnell zur nächsten WM-Vergabe: Kanada, USA und – wen nehmen wir noch? Ähm, Mexiko. Warum auch nicht? Präventions- und Linderungsmaßnahmen machen ja gar keinen Sinn, wenn man sie nicht auch an einem echten Praxisfall testen kann.

Wie weit soll der Boykott gehen?

So oder ähnlich, liebe Leser, soll es Ihnen nicht ergehen. Formulieren Sie deshalb ihre Selbstverpflichtung konkreter. Legen Sie jetzt schon genau fest: Wie weit will ich mit meinem Boykott gehen? Klären Sie zum Beispiel, ob Sie alle Bildschirme boykottieren wollen oder nur Bildschirme ab einer gewissen Größe. Verbieten Sie sich auch winzigste Spielausschnitte oder nur komplette Spiele? Was machen Sie, wenn Sie an einem Public Viewing vorbeilaufen? Werden Sie mit deutlichem Missfallen weggucken oder ist es okay für Sie, wenn Sie da mal kurz stehen bleiben? Aber: Wie viele Minuten sind für Sie „mal kurz“?

Und: Was ist mit Radioberichten, gehen die? Wollen Sie ein ganz harter Hund werden und auch das Checken der Spielergebnisse im Internet verweigern? Werden Sie Gespräche abbrechen, wenn jemand Ihnen vom letzten Spiel erzählt? Werden Sie Katar aus Ihrer Weltkarte im Büro tilgen? Und was ist damit: Sie schalten zu einem zufälligen Zeitpunkt ein, sehen ein Spiel, wissen aber gar nicht genau, ist das jetzt eines dieser WM-Spiele oder nicht? Wenn Sie es gar nicht wissen, dürfen Sie dann gucken? Oder verpflichten Sie sich dazu, das herauszufinden zu müssen? Gestatten Sie sich, für den Zweck des Herausfindens zu gucken? Wollen Sie dabei zur Sicherheit ein Boykott-T-Shirt tragen?

Was Nancy Faser sagt

Liebe Leser, klar ist also: Sie haben noch viel moralischen Kleinkram zu erledigen. Aber eines kann ihnen Mut machen: Egal, wofür Sie sich entscheiden, ob Sie in letzter Sekunde noch mit einem Privatflieger nach Katar düsen oder ob Sie in Bundesligastadien gegen die WM plakatieren, Innenministerin Nancy Faeser steht in jedem Fall hinter Ihnen.

„Absolut“, erklärte sie der FAZ. Sie habe für jeden Verständnis. „Ich respektiere, wenn Fans dort hinreisen. Genauso respektiere ich, wenn Leute sagen: Auf keinen Fall!“ und zum Guckboykott aufrufen. „Es ist nicht an mir, das zu beurteilen, um Gottes willen.“ Immerhin: Aus innenministerieller Sicht können Sie also gar nichts falsch machen.

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