Porträt Mit 81 Jahren ist Martin Scorsese nicht nur zum zehnten Mal für einen Oscar nominiert, sondern auch plötzlich Tiktok-Star. Autor Steve Rose traf ihn in London zum Interview. Nach zwei Minuten stand Scorsese auf, um zu gehen
Martin Scorsese: „Es hat etwas, im Pyjama mit den Hunden auf dem Boden rumzualbern und alle lachen“
Foto: Bruce Gilden/Magnum Photos/Agentur Focus
Nach zwei Minuten mit Martin Scorsese scheint das Interview vorbei zu sein. Wir sprechen über seinen Film Killers of the Flower Moon, der für zehn Oscars nominiert ist, darunter Scorseses zehnter für beste Regie. Aber er wirbt seit vorigen April für den Film, sagt er. „Ich will so schnell wie möglich wieder etwas machen. Zum Beispiel jetzt. Jetzt sofort. Heute.“ Dann erhebt er sich von seinem Stuhl. „Ja, jetzt gleich. Ich gehe.“ Äh …
Er setzt sich wieder hin und lacht herzlich. „Ist nichts Persönliches“, sagt er, während ich Mühe habe, meine Erleichterung zu unterdrücken. „Nein, es ist nur so, dass sie sagen: ‚Na ja, du musst mal Pause machen.‘ Wirklich? Zeit ist ein Problem. Existe
#8222;Nein, es ist nur so, dass sie sagen: ‚Na ja, du musst mal Pause machen.‘ Wirklich? Zeit ist ein Problem. Existenz, Nichtexistenz. Alors, wie man so sagt.“Mit 81 Jahren hat Scorsese noch viel zu erledigen – und die Energie dazu. Es scheint fast, als würde er rückwärts altern. Er dreht weiterhin epische Filme: Killers of the Flower Moon ist fast dreieinhalb Stunden lang; sein Vorgänger, The Irishman, war noch länger. Er dreht Dokumentarfilme und Fernsehsendungen, produziert Filme anderer Leute und hält als so ziemlich letzter Veteran des goldenen Zeitalters von New Hollywood die Fackel für das Kino hoch.Und damit nicht genug, ist Scorsese gegen alle Erwartungen ein Social-Media-Star geworden. „Augenscheinlich wurde ich dazu gezwungen, mich mit Tiktoks zu beschäftigen“, sagt er amüsiert. Zu verdanken hat er das seiner 24-jährigen Tochter Francesca, die ihren konzilianten Vater in ihre Posts einbindet. Hier versucht Scorsese den Zweck bestimmter Dinge von der Wimpernzange bis zur Menstruationstasse zu erraten; er wird in Gen-Z-Slang getestet (ein paarmal liegt er falsch, aber alles in allem ist er slay); er unterzieht eine potenzielle neue Muse, die Robert De Niro und Leonardo DiCaprio ersetzen soll, einem Screentest – sie entpuppt sich als Oscar, der Hund der Familie. Die Dynamik des Vater-Tochter-Duos ist so einnehmend, dass sie für einen Super-Bowl-Werbespot der Internetfirma Squarespace engagiert wurden.Der „größte lebende Filmemacher“ im Pyjama auf TiktokFrancis Ford Coppola bezeichnete Scorsese kürzlich als „den größten lebenden Filmemacher der Welt“, und der macht jetzt 30-Sekunden-Sketche für Social Media. „Es macht irgendwie Spaß“, sagt er. „Es hat etwas, wenn man die künstliche Atmosphäre der großen Interviews oder Auftritte bei Events durchbricht, und plötzlich sind wir zu Hause, balgen mit den Hunden auf dem Boden rum, im Pyjama, und alle lachen“.London, wo wir uns treffen, ist Teil seiner Tour durch Europa, die auch ein Treffen mit Papst Franziskus im Vatikan umfasste und ihn zu den Berliner Filmfestspielen führen wird, wo er am 21. Februar einen Goldenen Bären für sein Lebenswerk entgegennehmen wird.Einen dreieinhalbstündigen Film zu drehen, sei nicht so schwer, meint Scorsese – hat er schließlich oft genug gemacht. Killers of the Flower Moon – basierend auf der wahren Geschichte, wie Weiße systematisch Mitglieder des Osage-Stammes ermordeten, nachdem diese in den 1920ern auf ihrem Land auf Öl gestoßen waren – war sechs Jahre lang in der Mache und erforderte fast 100 Drehtage. Er räumt ein, dass es nicht einfach war, im schwülen Oklahoma zu drehen, mit Covid-Beschränkungen, historischen Kulissen, Kostümen, Pferden und Dutzenden von Statisten, die es zu beaufsichtigen galt. Aber er beschwert sich nicht. „Wenn man am Set ankommt, neigt man dazu, all die Fallstricke, die Unannehmlichkeiten des Drehs, die Schmerzen des Alterns, die Anzahl der Nickerchen, die man machen muss, aus dem Kopf zu streichen – man vergisst all das und denkt, man werde sehr schnell oder zumindest effizient drehen ... aber so läuft es nicht.“ Er lacht wieder. „Und so ackert man sich durch.“ Kälte sei ihm lieber. „Wenn es kälter ist, dreht man schneller.“Killers gräbt eine beschämende, rassistische Episode der amerikanischen Geschichte aus – zu einer Zeit, in der viele rechte Kulturkrieger dafür kämpfen, dass solche Geschichten verborgen bleiben. „Deshalb sollte er gedreht werden“, sagt Scorsese schlicht. „Ich habe das nicht mit der Absicht getan: ‚Jetzt werden wir die Korruption und die Niedertracht des ungezügelten Kapitalismus aufdecken, von dem wir wissen, dass er schrecklich ist.‘ Das habe ich mit The Wolf of Wall Street versucht, in dem Fall als Aufschrei, mit Humor. Als Nächstes wurde dann Trump gewählt.“De Niros Figur in „Taxi Driver“ war der Prototyp des IncelsEs kommt selten vor, dass Filme direkten Einfluss auf das echte Leben haben, scheint Scorsese damit sagen zu wollen – aber viele seiner Filme sind tiefergehend in unsere Kultur eingesickert. Nicht zuletzt wegen seiner Hauptinteressengebiete: Männer, männliche Macht, männliche Beziehungen und insbesondere die Gewaltbereitschaft von Männern.Es gibt einen Filmfan-Typus, den „Scorsese-Bro“, der ausschließlich dessen breitbeinige, brutale „Drugs and Guns“-Filme verehrt. Viele davon – Mean Streets, Taxi Driver, Raging Bull, Casino, Gangs of New York, The Wolf of Wall Street und vor allem Goodfellas – gelten als Meisterwerke, aber sie nehmen meist die Perspektive der (überwiegend männlichen) Täter ein und nicht die der Opfer. Killers of the Flower Moon, muss man sagen, ist da keine Ausnahme. In der Regel bekommen diese Männer ihre verdiente Strafe, aber Scorseses rasanter, viszeraler Stil lässt ihren Lebenswandel oft ziemlich cool aussehen. Oder wie Scorsese selbst es ausdrückt: „Sünde macht Spaß.“„Das ist eigentlich alles, was mich interessiert hat“, gibt er zu, „was die Täter betrifft“. Er blickt zur Seite und sagt länger nichts. „Es ist ein sehr kompliziertes Thema, weil es bis in meine Kindheit zurückreicht“, sagt er schließlich. Er wuchs im Little Italy der Nachkriegszeit auf, jenem New Yorker Viertel, wo sich seine sizilianischen Großeltern zusammen mit Hunderten anderer italienischer Einwanderer niedergelassen hatten. Waffen und Gangster waren Alltag ebenso wie Armut, Gewalt und der Katholizismus – mit seinen Vorstellungen von Moral, Sünde und Schuld. Er studierte Theologie, um Priester zu werden, bevor er in die Welt des Films, der Literatur und der Musik eintauchte. Was die Täter betrifft, so sagt er, habe ihn fasziniert, was Menschen zu Verbrechern macht. „Können wir zu Tätern werden?“Mit Filmen wie Goodfellas „ging es mir darum, die Anziehungskraft und den Genuss des Bösen zu verstehen. Man könnte also sagen: ‚Jetzt hast du beides.‘“ Er lächelt. „Möglicherweise.“Ihre Aktualität haben diese Themen behalten. Insbesondere Taxi Driver schien eine einsame, entfremdete, entmachtete und verbitterte Form von männlicher Identität auf den Punkt zu bringen, die seither Zulauf gefunden hat. De Niros Figur war der Prototyp des „Incel“, des potenziellen Massenmörders oder häuslichen Gewalttäters; ein Typus, den wir heute alle kennen. Taxi Driver (1976) nahm außerdem die Rolle der Medien bei der Verwässerung der Moral solcher Figuren vorweg, gleiches gilt für The King of Comedy (1982) mit De Niro als gescheitertem Stand-up-Comedian, der zum Entführer wird (Todd Phillips Joker, der 2019 extrem einen Nerv traf, war fast ein Mashup dieser beiden Filme, bis hin zur Besetzung von De Niro als Talkshow-Moderator).In den letzten 30 Jahren las er fast nur Romane von FrauenIm Fall von Taxi Driver schwappte die Gewalt von der Leinwand über: John Hinckley Jr. – getrieben von einer Obsession für Hauptdarstellerin Jodie Foster und De Niros Antihelden nacheifernd – verübte 1981 ein Attentat auf US-Präsident Ronald Reagan. Ein Vorfall, mit dem sich Scorsese immer wieder auseinandergesetzt hat. „Fand ich gut, was passiert ist? Nein. Hatten wir das Gefühl, dass es richtig war, diesen Film zu machen? Ja. Ist Gewalt letztendlich der entscheidende Faktor, der einen Mann zu einem Mann macht? Ich denke nicht.“Es gibt andere Ventile für männliche Wut, meint Scorsese. Rock’n’Roll, zum Beispiel. Davon zeugen seine zahlreichen Filme über Musiker, angefangen bei The Last Waltz (1978). Vielleicht ist das Filmemachen ein weiteres. Steven Spielberg sagte einmal, Scorsese ließe De Niros Figur in Mean Streets „über die Stränge schlagen und die Kontrolle verlieren, damit er selbst die Kontrolle behalten kann. Ich finde [De Niro] ist einfach wunderbar als eine Art Erweiterung dessen, was Marty hätte sein können, wenn er kein Filmemacher gewesen wäre.“Wenn Scorsese Frauen in den Vordergrund stellte, fiel das Ergebnis in der Regel positiv aus – angefangen bei Pretend It’s a City, seiner Netflix-Serie über Fran Lebowitz, bis hin zu Alice lebt hier nicht mehr von 1974. Ellen Burstyn gewann einen Oscar für ihre Rolle als alleinerziehende Mutter, die sich danach sehnt, Sängerin zu werden. Burstyn wählte Scorsese nach dem Erfolg von Mean Streets für die Regie aus. In einem Interview erzählte sie später, was sie Scorsese bei ihrer ersten Begegnung sagte: „Dieser Film handelt von einer Frau, und in Ihrem Film [Mean Streets] gab es nur eine einzige weibliche Rolle, anhand dessen konnte ich nicht ausmachen, ob Sie irgendetwas über Frauen wissen. Tun Sie das?“ Scorsese antwortete: „Nein, aber ich würde es gerne lernen.“„Sagen wir so: Ich bin immer noch neugierig“„Ich lerne immer noch gerne!“, sagt er, als ich ihm das Zitat vorlese. „Ich lerne dazu. Wirklich.“ Er habe viele weibliche Kolleginnen, betont er, darunter Thelma Schoonmaker, die seit fast 60 Jahren mit ihm zusammenarbeitet und für den Schnitt seiner Filme drei Oscars gewonnen hat. Er hat Filme von Joanna Hogg und Josephine Decker produziert. Und in den letzten 30 Jahren habe er fast nur Romane von Frauen gelesen, sagt er.Das führt uns zu Scorseses Zeit der Unschuld (1993), der auf dem Roman von Edith Wharton basiert. Der Film spielt im New York des späten 19. Jahrhunderts unter ultrareichen Familien. Keine Waffen oder Drogen, aber unter der Oberfläche ist diese Gesellschaft genauso gewalttätig. Daniel Day-Lewis als aalglatter Aufsteiger wird schließlich von seinen beiden Geliebten, Michelle Pfeiffer und Winona Ryder, überlistet. Mit anderen Worten, es ist ein Film über Männer, die Frauen nicht verstehen.Letztlich gehe es nicht um Geschlechterunterschiede, sagt er. „Ich versuche herauszufinden, wer wir als Mensch sind, als Organismus, woraus unsere Herzen gemacht sind. Ich glaube, das ist es, wonach ich suche. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich bin immer noch neugierig.“Placeholder authorbio-1
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