Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“: Kassenschlager in Russlands Kinos
Adaption Eine Neuverfilmung von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ prangert deutlich die Zensur an. Regisseur Michael Lockshin bezeichnet es als „wahres Wunder“, dass der Film in Russland überhaupt starten durfte
Der Schauspieler Evgeniy Tsyganov (Meister) und die Schauspielerin Yulia Snigir (Margarita) sind auch im echten Leben ein Paar
Foto: Mars Media
Es ist bereits von einer gewissen Ironie, dass der aktuell größte Hit an den Kinokassen Russlands eine Adaption von Michail Bulgakows Der Meister und Margarita ist. Hinzu kommt, dass die Verfilmung, die deutlich die Zensur anprangert, auch noch von einem amerikanischen, sich lautstark gegen den Krieg positionierenden Regisseur gedreht wurde (Trailer auf Youtube). Anton Dolin, einer von Russlands führenden Filmkritikern, bezeichnet die Adaption gar als den „besten kommerziellen Film, der je in Putins Russland gedreht wurde“. Ein schlagender Erfolg aber kann sich hier schnell zum Nachteil entwickeln, so musste der Film erst den Spießrutenlauf zwischen Kreml-Propagandisten und -Zensoren überstehen, um sich dann, in bester Hollywood-Manier, gegen alle Wider
;berstehen, um sich dann, in bester Hollywood-Manier, gegen alle Widerstände zu behaupten.Regisseur Michael Lockshin bezeichnet es deshalb als „ein wahres Wunder“, dass der Film überhaupt startete. Während des Telefoninterviews mit ihm in Los Angeles, wo er inzwischen lebt, erzählt er: „Es war ein unglaublich harter Weg, besonders seit der Krieg begonnen hat.“In den Wochen nach Filmstart hatte Lockshin die Presse weitgehend gemieden. Grund dafür war das Heer von Online-Trollen und kremlfreundlichen Sprachrohren, das dazu aufrief, ihn zu verhaften. Ihnen gefiel weder, dass er sich gegen den Krieg mit der Ukraine äußerte, noch, dass sein Film den Totalitarismus anprangerte, noch die Tatsache, dass ein Teil des geschätzten Budgets von 17 Millionen Dollar – eines der größten Filmbudgets, das in Russland je ausgegeben wurde – aus dem Staatlichen Russischen Filmfonds stammte.Ein Film gegen die Zensur„Jeder, der heutzutage einen Film macht, dreht oder schreibt auf die eine oder andere Weise einen Film über die Gegenwart“, sagt Dolin. „Bei Der Meister und Margarita ist das ganz offensichtlich: Wir leben in einer Gegenwart, in der in Russland Zensur wieder weitverbreitet ist, und dieser Film richtet sich gegen die Zensur und hält sich nicht an sie, das inspiriert die Zuschauer.“Kreml-nahe Telegram-Kanäle forderten, dass gegen Lockshin wegen Verunglimpfung der russischen Armee ermittelt wird, man bezeichnete ihn als Terroristen. Er wurde von Margarita Simonyan, der Leiterin des staatlich kontrollierten Senders RT, und Wladimir Solowjow, dem Putin-freundlichen Talkshow-Moderator, angegriffen. Russische Boulevardzeitungen veröffentlichten Angaben zu seinem Wohnort (zum Glück oft die falschen), und er erhielt Morddrohungen.Lockshin bekennt, dass das alles „sehr unangenehm“ und beunruhigend gewesen sei. „Ich war immer eher der Typ hinter der Kamera und mochte es nie, wenn man mir zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Deshalb waren die letzten Wochen beängstigend. Ich hatte das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren ... als hätte der Film ein Eigenleben angenommen.“Ursprünglich war seine größte Sorge, wie das Publikum wohl auf seine künstlerische Bearbeitung von Bulgakows Klassiker reagiert. Der Roman erzählt drei Geschichten gleichzeitig: die von Pontius Pilatus, der gegen Jeschua Ha-Notsri (Jesus von Nazareth) in Jerusalem Prozess hält, die von der Ankunft des Teufels Woland mit Gefolge im Moskau der 1920er Jahre und die des Meisters und seiner Geliebten Margarita.Um die Geschichten miteinander zu verbinden, lässt Lockshin im Film den Meister den Roman Meister und Margarita schreiben, er fügt so eine Metaerzählung hinzu, die es in Bulgakows Original nicht gibt. Diese künstlerische Freiheit könnte als Blasphemie angesehen werden: Der Roman gilt als das beliebteste Buch Russlands des 20. Jahrhunderts.Aber stattdessen gerieten Lockshin, die Schauspieler und die Produzenten in einen politischen Feuersturm, der bis in die Staatsduma und das nationale Fernsehen reichte. „Eine Woche lang wussten wir nicht, ob sie den Film nicht doch noch verbieten würden“, erzählt Lockshin. „Es gab echte Diskussionen darüber.“In der Entfaltung dieses aktuellen Dramas spiegelte sich das Thema des Films, die stalinistische Zensur, gleichsam in Echtzeit im heutigen Russland wider. Und erinnerte auf diese Weise an das Leben von Bulgakow selbst, dessen Roman erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht wurde. „Ich habe mich über die Ironie des Ganzen gewundert, denn es ist eine Art Wiederholung dessen, was mit dem Buch und Bulgakow damals geschah“, so Lockshin. „Die Leute, die auf mich losgingen, (wussten) nicht, wie sehr sie Figuren aus dem Film nachspielten.“Lockshin ist ein amerikanisch-russischer Filmemacher, der in den USA geboren wurde und als Kind mit seinen Eltern 1986 in die Sowjetunion zog. Sein erster Spielfilm, Silver Skates, der im St. Petersburg um 1900 spielt, kam 2020 ins Kino und wurde ein Jahr später von Netflix gekauft.Die Kunst steht in Russland derzeit unter verschärfter Beobachtung. Künstler, die sich gegen den Krieg äußern, werden verhaftet. Der Kreml bestrafte kürzlich sogar einige seiner „loyalen“ Popstars, nachdem sie nach sowjetischer Manier für ein dekadentes Verhalten denunziert worden waren: die Teilnahme an einer „fast nackten“ Party in einem Moskauer Club. Nachdem sich Soldaten bei Putin über einige der in den Social Media aufgetauchten Videos von der Party beschwert hatten, mussten sich die Teilnehmer unter Tränen auf Instagram entschuldigen – oder zur Buße in den besetzten Gebieten der Ostukraine auftreten.Gerade als die rechtsextremen Propagandisten nach einem weiteren Sündenbock suchten, kam Der Meister und Margarita in die Kinos. Der Film war 2021 gedreht worden und befand sich bereits in der Postproduktion, als Putin seine Invasion in der Ukraine startete. Das Drehbuch hatte Lockshin zusammen mit Roman Kantor bereits Jahre zuvor entwickelt. Lockshin erzählt, was ihnen damals durch den Kopf ging: „So könnten sich die Dinge in Russland entwickeln, wenn sich nichts ändert ... Aber andererseits war es nicht so, dass wir wussten, was in zwei Jahren passieren würde, und wir 2024 tatsächlich das Niveau von Stalins Säuberungen erreichen würden, wie es jetzt der Fall zu sein scheint.“Der Krieg hat alles verändert, aber Lockshin hat sich nicht beirren lassen. „Die, die diese Invasion begonnen haben, sind Kriegsverbrecher und sollten vor Gericht gestellt werden, das ist meine Meinung“, sagte er. Er war nicht bereit zu schweigen, auch nicht, um den Film zu retten, „und das hatte zur Folge, dass er zunächst auf Eis gelegt wurde“.Universal Pictures, die den Vertrieb des Films übernommen hatten, stiegen 2022 aus dem Projekt aus. Aus Sorge über seine öffentliche Haltung schnitten die russischen Produzenten Lockshins Namen aus dem Werbematerial des Films heraus und veröffentlichten später eine öffentliche Erklärung, in der es hieß, Lockshin habe seit 2021 „nichts mehr mit dem Film zu tun“.Der Moment erinnert an eine frühe Szene im Film, in der der Meister, ein junger Dramatiker, gespielt von Jewgeni Tsyganow, vor den sowjetischen Schriftstellerverband gezerrt wird, wo seine Stücke verboten werden und er von seinem Verleger öffentlich denunziert wird.Doch die Produzenten gaben das Projekt nicht auf, so Lockshin, obwohl sie „dafür viel Kritik einstecken mussten“ und vom staatlichen russischen Kinofonds abgeschnitten wurden. Und dann wurde aus dem Film ein Hit.Die Reaktion der Öffentlichkeit habe er nicht vorhersehen können, so Lockshin, da es praktisch keine Vorabvorführungen oder Testscreenings gegeben habe. „Ich hatte keine Ahnung, wie die Leute den Film aufnehmen würden. Ich konnte nur hoffen. Die Reaktionen waren dann das Beste, was ich von den Menschen, die ich respektiere, erwarten konnte.“Trotz des Erfolgs des Films reißen die düsteren Meldungen aus Russland nicht ab. Kurz nachdem der Guardian zum ersten Mal mit Lockshin gesprochen hatte, starb Alexej Nawalny in einer arktischen Gefängniskolonie, was von vielen als politisches Attentat gewertet wird. „Er verkörperte die innere Freiheit, selbst als er im Gefängnis war, und zeigte niemals Angst“, sagte Lockshin über den Oppositionsführer. „Das spielt auch in diesem Film eine große Rolle.“ Da in Russland die Zensur immer repressiver wird, könnte Der Meister und Margarita einer der letzten Filme seiner Art sein: ein Blockbuster, in dem die Kritik am Staat offen sichtbar ist. Die Popularität des Films könnte dabei als „Katalysator ... dafür wirken, dass das Regime noch repressiver wird“, so Lockshin.Dolin, der Filmkritiker, meint: „Nach dem Skandal, den dieser Film ausgelöst hat, denke ich, dass die Zensur in Zukunft strenger vorgehen wird.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.