Ich muss an dieser Stelle wohl nicht resümieren, was in den letzten Wochen in Deutschland geschehen ist. Fremdenfeindlichkeit und extremistische Angriffe dominieren die Straßen, die Foren und die Nachrichten. Dabei häufen sich die Straftaten in bizarrem Ausmaß und nehmen erneut und entgegen jeglichen Lehren aus der Geschichte menschenverachtende Formen der untersten Schublade an – es ist, als hätten wir Jahrhunderte der kulturellen Entwicklung komplett über Bord geworfen.
Die Mär des Sozialmissbrauchs
Eine der mit Abstand beknacktesten Behauptungen von latent oder direkt Fremdenfeindlichen ist das halbgare Argument, die Flüchtlinge kämen systematisch als „Sozialschmarotzer“ ins Land. Angesichts der Kosten einer Flucht – vom Verlust der Heimat und der Habe bis zu den horrenden Gebühren für die Schlepper – ist HartzIV kaum ein finanzieller Anreiz. Mal ganz abgesehen davon, dass die Lebenshaltungskosten in Deutschland höher sind als in Afrika, in Syrien oder auf dem Balkan – das wissen auch die Flüchtlinge.
Eingebetteter MedieninhaltKarikatur: „Fluchtplan“; Quelle: www.timoessner.de
Man muss den Spieß einfach mal umdrehen: Was müsste passieren, damit Sie alles aufgeben und sich auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse über unsichere Pfade und in einer Nussschale übers Meer aufmachen würden? Die Aussicht auf monatlich 325 Euro „Asylbewerberleistung“ oder Hungersnot, tödliche Armut und Krieg?
Jeder ist sich selbst der Nächste
Nach unten zu treten kann sich offenbar so anfühlen, als würde man selbst auf der gesellschaftlichen Leiter eine Stufe aufsteigen. Indem man andere erniedrigt, wird die eigene aussichtslose Existenz ein wenig erträglicher. So lässt das fadenscheinige Argument „Sozialmissbrauch“ erahnen, was dahintersteht: Es ist die Angst vor Benachteiligung. Das Gefühl, von der Politik vergessen und von der Gesellschaft ausgegrenzt zu sein.
Stattdessen sehen die Verlorenen dabei zu, wie sich ein tatkräftiges allgemeines Engagement für „die Fremden“ entwickelt – und befürchten dabei, endgültig unter die Räder zu kommen und verdrängt zu werden. In dieser jahrzehntelang ungehörten Aussichtslosigkeit richten sie ihre Wut auf die noch Schwächeren der Gesellschaft – auch wenn ihnen dazu manchmal nur die Tastatur zur Verfügung steht.
Keine Arbeit, keine Perspektive, kein Mitleid
So beschreibt der Journalist Jakob Augstein in einem Beitrag vom 30. August auf seiner Facebook-Seite die Konfrontation eines Facebook-Hetzers mit seinen Äußerungen: „Als die Reporter [vom Magazin Spiegel TV] ihn finden, leistet er für einen Euro in der Stunde gemeinnützige Arbeiten in einem Kirchgarten. Dort wird er von seinem Sozialarbeiter und den Reportern zur Rede gestellt.“ Das Gespräch verläuft eher einseitig: Der Mann ist wortkarg, kann nicht so recht erklären, warum er Flüchtlinge in Konzentrationslager stecken will. Es sei halt seine Meinung. Augstein schlussfolgert resignierend: „Er hat keine Zähne und keine Ahnung. Er hat keine Arbeit und keine Hoffnung.“
Die Kosten steigen, die Ersparnisse sind dahin
Es wird vermutlich die wenigsten wundern, dass Arbeits- und Perspektivlosigkeit die Menschen zu gefühlstauben Egoisten machen kann. Not ist bekanntermaßen ein vorzüglicher Nährboden für Vorurteile. Die Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie Krisen und Armut dafür genutzt werden, um Stimmung gegen andere zu machen. Aus Futterneid wird Fremdenhass.
Eingebetteter MedieninhaltKarikatur: „PEGIDA“; Quelle: www.timoessner.de
Während die Lebenshaltungskosten in den vergangenen Jahren stetig anstiegen, hat sich das Lohnniveau kaum entsprechend entwickelt. Selbst wenn Gewerkschaften eine Lohnsteigerung aushandeln, wird diese zuweilen schon von der Strompreisentwicklung direkt aufgefressen.
Hinzu kommt, dass der traditionell sparbewusste Deutsche längst an die Reserven gehen musste – entweder, weil man die allgemeine Preissteigerung mit der Altersvorsorge ausgleichen muss, oder weil es sich schlichtweg nicht mehr lohnt: Vom klassischen Sparbuch bis zum Tagesgeldkonto, es findet sich kaum noch eine sichere Sparmöglichkeit. Im Gegenteil: Viele Menschen wurden seit 2008 über Zinsanpassungen von durchschnittlich über vier auf aktuell unter einen Prozent und den fehlenden Inflationsausgleich regelrecht ihrer Ersparnisse beraubt. Das schürt zusätzlich Unsicherheit und Zukunftsängste.
Milliardenschwere Bankenrettungen und medienwirksam aufgeblähte Hilfspakete für Griechenland tun ein Übriges, um das Gesamtbild zu festigen: „Die da oben“ helfen allen anderen und zuerst sich selbst, aber nicht ihrer eigenen Bevölkerung.
Armut und Extremismus
Der Blogger Felix „Fefe“ von Leitner stellte am 24. August angesichts der Meldung über zwei Rechtsradikale, die in einer Berliner S-Bahn auf eine Frau und ihre beiden Kinder urinierten, die interessante Frage: „Gibt es da eigentlich schöne Statistiken drüber, ob Nazis unter den Hartz IV-Empfängern überrepräsentiert sind?“
Tatsächlich gibt es dazu keine Erhebung. Das liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass die politische Ausrichtung aus nachvollziehbaren Gründen keinen Einfluss auf einen ALG-II-Antrag hat und haben darf. Es finden sich allerdings Kennzahlen zu jeweils Arbeitslosigkeit und rechtsextremer Gewalt.
Statistiken im Vergleich
Aus dem Bericht der Bundesagentur für Arbeit zur Arbeitslosigkeit in den Bundesländern lassen sich die monatlichen ALG-II-Quoten und Arbeitslosenquoten insgesamt entnehmen, bspw. für den April dieses Jahres. Es gibt aktuellere, aber Destatis hat bis dato die relevanten Vergleichsdaten nur für April parat.
Die erste Statistik zeigt also absteigend die Daten der Arbeitsagentur über die relative Arbeitslosigkeit in den Bundesländern.
Eingebetteter MedieninhaltMonatlicher Bericht zur Arbeitslosigkeit der Länder: Kennzahlen zur Arbeitslosenquote im April 2015; Quelle: www.arbeitsagentur.de
Diese Statistik beschreibt allerdings nur die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 63 und ist daher nur bedingt aussagekräftig. Darum vergleichen wir mit der Statistik von Destatis: Hier wurden die Zahlen der Arbeitsagentur umgerechnet auf die Bevölkerung und damit der absolute Anteil der ALG-II-Empfänger in den Ländern bestimmt. Es sind also alle enthalten, die tatsächlich von HartzIV leben – auch Kinder und Senioren, deren Rente nicht ausreicht.
Eingebetteter MedieninhaltStatistik zum Anteil der ALG-II-Empfänger an der Bevölkerung nach Bundesländern im April 2015; Quelle: www.statista.de
Nun nehmen wir die Zahlen über rechtsmotivierte Gewalttaten zur Hand. Das ist nicht ganz einfach, denn die Berichte klaffen weit auseinander. Während die Bundesregierung vorsichtige oder – anders ausgedrückt – weißgebügelte Statistiken pflegt, zählen Beobachter der Szene zum Teil doppelt so viele Straftaten wie die Behörden.
An dieser Stelle nehmen wir als Vergleich die „vorsichtige“ Jahresstatistik von 2014, welche von „Netz gegen Nazis“ auf der Grundlage von offiziellen Statistiken des Bundesministeriums des Inneren (BMI) gesammelt wurde; die Statistik für 2015 liegt logischerweise noch nicht vor.
Eingebetteter MedieninhaltQuelle: „Netz gegen Nazis“, Länderranking für rechte Gewalt, auf der Grundlage von Daten des Bundesministerium des Inneren (BMI)
Nun muss man bei Schlussfolgerungen aus Statistiken immer etwas vorsichtig sein. Sicherlich spielen viele weitere Faktoren eine wichtige Rolle im Komplex aus Armut und Extremismus – vom allgemeinen Bildungsgrad über das soziale Umfeld bis zur individuellen Mordlust.
Allerdings ist eines direkt auffällig: Vergleicht man die sieben Bundesländer, die ganz offiziell mehr als zwei politisch motivierte Straftaten rechter Gewalttäter pro 100.000 Einwohner vermelden lassen, mit dem Ranking der ALG-II-Bezieher in den Ländern, dann tauchen immer wieder die gleichen Namen auf: Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg.
Stellt der Stadtstaat Bremen in diesem Vergleich mit einem Höchststand im ALG-II-Ranking (Platz 2 mit 14,6 %) ein positives Beispiel für relativ wenig rechtsmotivierte Gewalttaten dar (0,46 rechtsextreme Straftaten pro 100.000 Einwohner), fällt Thüringen umgekehrt auf traurige Weise auf: Bei „nur“ 8,0 Prozent Anteil an ALG-II-Beziehern in der Bevölkerung wurden hier im vergangenen Jahr 2,27 rechtsextreme Straftaten pro 100.000 Einwohner verübt. Während die Anzahl der rechtsmotivierten Straftaten in Berlin viele erschrecken mag – gilt die Hauptstadt doch als Metropole weltoffener Kultur –, bestätigt Brandenburg die schlimmsten Befürchtungen.
Das Bundesministerium des Inneren erklärt dazu in seiner Pressemitteilung vom 06.05.2015 zur Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) und Politisch Motivierter Kriminalität (PMK) im vergangenen Jahr: „Angriffe auf Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte sind 2014 stark gestiegen. In diesem Zusammenhang ist es zu 203 Delikten gekommen, die überwiegend rechtsmotiviert waren. Rechtsmotivierte Täter sind für 175 dieser Angriffe verantwortlich (2013: 58). Die rechte Szene hat 2014 weiterhin gezielt versucht, die öffentliche Debatte um Zuwanderung für fremdenfeindliche Agitation zu nutzen.“
Kritik an den Zahlen
Dabei decken die offiziellen Statistiken nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit ab. Die Dunkelziffer der rechtsextremistisch motivierten Straftaten liegt weit höher. So beschreibt das Stern-Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ unter Berufung auf Berechnungen der Amadeu-Antonio-Stiftung in der Chronik über „Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“, wie die tatsächlichen Kennzahlen geschönt und verschleiert werden:
„75 rechte Morde in Deutschland seit 1990 zählt die Bundesregierung nun offiziell. Eine große Diskrepanz bleibt also weiter bestehen: Die Amadeu Antonio Stiftung zählt 178 Todesopfer rechter Gewalt.“ Die tatsächlichen Zahlen lassen sich allerdings für viele offiziell nichtregistrierte Fälle nicht mehr rekonstruieren – etwa weil Ermittlungen eingestellt oder Akten vernichtet wurden.
Außerdem wurden und werden viele Straftaten nicht als politisch motiviert betrachtet – auch wenn es deutliche Anzeichen dafür gibt. So finden etwa Obdachlose als Opfergruppe rechter Gewalt kaum Beachtung, oder angezeigte Straftaten werden von den Ermittlungsbehörden heruntergespielt: In unserer schönen Dorfidylle gibt es so etwas nicht!
Fazit
Auch wenn ein Zahlenvergleich nicht die Lösung des Problems bedeutet: Es erhärtet sich der Eindruck, dass Armut und Extremismus direkt verbunden sind und sich gegenseitig begünstigen.
Jede Gewalttat ist ein Ausbruch zügelloser Wut. Jede Wut hat ihre Wurzeln. Es kann allerdings nicht allein Aufgabe der Zivilgesellschaft sein, sich dem Extremismus entgegenzustellen. Es ist Aufgabe des Staates, solide Sozial- und Bildungsstrukturen zu schaffen, lebenswerte Arbeitsverhältnisse zu fördern und jene zu unterstützen, die sich für ein friedliches und konstruktives Miteinander einsetzen – wenn die Verteilung in der Gesellschaft funktioniert, reicht es in Deutschland locker für alle Bürger und für die Hilfesuchenden noch dazu.
Eine Abwälzung dieser Aufgaben etwa auf ehrenamtliche Helfer, wie es Spitzenpolitiker gerne unter Missachtung ihrer eigenen Verantwortung fordern, ist jedoch keine Alternative zur tatkräftigen Zusammenarbeit von Behörden und Bürgern. Diese Zusammenarbeit beginnt allerdings bereits beim „Wehret den Anfängen“ – und nicht erst mit dem Aussprechen von Versammlungsverboten, wenn die Straßen bereits brennen.
Interaktive Grafik der ZEIT:
„Todesopfer rechter Gewalt seit 1990“
Quellen:
https://www.facebook.com/JakobAugstein/posts/1009636229081305
http://www.tagesgeldvergleich.net/statistiken/zinsentwicklung-tagesgeld-monatsvergleich.html
http://www.tagesgeldvergleich.net/tagesgeldvergleich/sparbuch.html
http://blog.fefe.de/?ts=ab2591f6
http://www.sueddeutsche.de/panorama/berlin-rechtsextremist-uriniert-auf-kinder-1.2620134
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-06/rechte-gewalt-todesopfer-zahlen-brandenburg
http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/05/pks-und-pmk-2014.html
Kommentare 29
Stimmt, danke für die Ergänzung; die allgemeine volkswirtschaftliche Lage ist natürlich auch entscheidend - der Arbeitsmarkt ist logischerweise auch ein wichtiger Konjunkturanzeiger.
Der Themenkomplex ist allerdings sehr umfangreich; man kann darüber ganze Buchreihen schreiben, um alle Aspekte, Regelmäßigkeiten und Ausnahmen vollumfänglich mit einzubeziehen.
"Besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Armut und Ausländerfeindlichkeit? "
Arm und Reich ga es schon immer. Was neu scheint ist, die Armen werden nciht einmal mehr der Ansprache von Amtswegen, aßer bei maßregeln, für würdig befunden und wenden sich dann verstört in einem großen Missverständnis ausgerechnet mit Groll, an die noch Ärmeren aus dem Ausland weil die zumindest dem Anschein nach der Ansprache durch Medien, den Staat, Kommunen würdig scheinen
https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/wandert-wirtschaft-in-soziale-systeme-ein
JOACHIM PETRICK 09.01.2014 | 19:07 137
Wandert Wirtschaft in Soziale Systeme ein?
Bundespräsident Joachim Gauck zum Neujahrsempfang 2014 am heutigen Tag im Berliner Schloss Bellevue: "..unser Staat ist an die Grenzen seiner monetären Belastbarkeit angelangt!"
Danke für das Feedback!
Das sehe ich ähnlich: 70 Jahe Einwanderung und die CDU diskutiert immernoch darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist und ob man überhaupt sowas wie ein Asylrecht braucht. Man hat an höchster Stelle jahrzehntelang versäumt, die erforderlichen Strukturen für Betreuung und Integration zu schaffen. Statt dessen wird die Verantwortung auf Ehrenamtliche abgeschoben, die folgerichtig irgendwann an ihre Grenzen stoßen, weil Ehrenamtliche natürlich nicht über die Möglichkeiten und Kapazitäten eines Staates verfügen.
Ich denke auch, dass sich viele einfach nur verlassen und aufgegeben fühlen. Infolgedessen steigt die Frustration, die Wut und ja: das Miss- oder Unverständnis für die Not anderer.
Ich möchte auch gerne an dieser Stelle noch einmal unterstreichen: Es geht hier lediglich um den Vergleich von Zahlen, um einen Verdacht auf eine Tendenz zu überprüfen. Das klingt sehr vage - und das ist es auch. Statistiken sagen nur selten etwas über die individuelle Lebenswirklichkeit aus, sondern betrachten eine Gruppe zu einem bestimmten Faktor über einen gewissen Zeitraum. Ich will hier nicht die Gleichung "arm = rechtsradikal" aufstellen, um Himmels Willen!
Ich betone das extra, weil mir das an anderer Stelle vorgeworfen wurde.
Ich hatte weiter oben bereits geschrieben, und möchte auch gerne an dieser Stelle noch einmal unterstreichen:
Es geht hier lediglich um den Vergleich von Zahlen, um einen Verdacht auf eine Tendenz zu überprüfen. Das klingt sehr vage - und das ist es auch. Statistiken sagen nur selten etwas über die individuelle Lebenswirklichkeit aus, sondern betrachten eine Gruppe zu einem bestimmten Faktor über einen gewissen Zeitraum.
Ich will hier nicht die Gleichung "arm = rechtsradikal" aufstellen, um Himmels Willen!
Ich hege außerdem nicht den Anspruch zu perfekter Allwissenheit; allerdings habe ich mein Ziel erreicht: Der Beitrag konnte einen Gedankenanstoß zur öffentlichen Diskussion liefern.
Danke für Ihr Feedback und natürlich auch für die Links zu den ZEIT-Beiträgen!
Zu dem Thema haben Wilherm Heitmeyer und andere wichtige Beiträge geliefert, nachzulesen u.a. in der Buchreihe "Deutsche Zustände".
2007 schrieben Heitmeyer und Peter Sitzer in "Aus Politik und Zeitgeschichte" u.a. dazu: "... Eine zentrale Quelle rechtsextremistischer Gewalt liegt in spezifischen Sozialisationserfahrungen. Sozialisation wird dabei verstanden als ein Prozess der Aneignung von und Auseinandersetzung mit den sozialen und dinglich-materiellen Lebensbedingungen in einem spezifischen historisch-gesellschaftlichen Kontext, in dessen Verlauf sich der Mensch zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet.[16] Rechtsextremistische Überzeugungen und Gewaltbefürwortung sind aus dieser Perspektive Produkte der Verarbeitung der äußeren Realität des Subjekts in wechselseitiger Abhängigkeit mit seiner inneren Realität. Weder das Subjekt noch die Gesellschaft werden pathologisiert, sondern erst das Zusammenwirken individueller und sozialer Faktoren bereitet den Nährboden für Entwicklungen, die in der Eigenlogik des Subjekts höchst produktiv erscheinen können - etwa im Sinne von Anerkennungsgewinnen - und gleichzeitig für die Gesellschaft extrem destruktiv sind.[17] Wenngleich die individuellen Erfahrungen in der Familie spezifische Entwicklungen nicht determinieren, gelten sie als "Startbedingungen" für nachfolgende Entwicklungsprozesse. ...
Die Partizipation an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft wird als positionale Anerkennung erfahren. Objektiv sind ausreichende Zugänge zum Arbeits-, Wohnungs- und Konsummarkt relevant, subjektiv eine hinreichende Zufriedenheit mit der beruflichen und sozialen Position. Anerkennungsdefizite in dieser Dimension können aus schulischen und beruflichen Misserfolgen resultieren, aus geringen sozialen Aufstiegschancen oder einem drohenden oder befürchteten sozialen Abstieg. Solche Anerkennungsdefizite finden sich bei rechtsextremistischen Gewalttätern überdurchschnittlich häufig. Ideologien der Ungleichwertigkeit haben vor diesem Hintergrund eine doppelte Funktion: Zum einen kann das positive Selbstbild gewahrt werden, indem anderen die Verantwortung für die eigene prekäre Lage zugeschrieben wird. Zum anderen kann das Selbstwertgefühl durch die Abwertung anderer Personen und Gruppen erhöht werden. Schließlich legitimieren Ideologien der Ungleichwertigkeit Gewalt gegen die stigmatisierten Personen und Gruppen. Die Funktion von Gewalthandlungen liegt unter anderem darin, sich in Gewalt befürwortenden Gruppen Status zu erkämpfen und auf diese Weise den Mangel positionaler Anerkennung zu relativieren. ..."
Kurz gesagt: Die spoziale Lage spielt eine Rolle, ohne dass sie der allein ausschlaggebende Faktor ist.
Ein guter Einwand! Es gibt ja schon Bürgermeister, die laut überlegen, dass sie - wenn alle Stricke reißen - von ihrem Recht Gebrauch machen wollen, im Notstand Gebäude beschlagnahmen zu lassen. DAS wäre ein Ansatz: Immerhin sprechen wir doch derzeit von ca. 1 Million Flüchtlingen, die hätten dann schon direkt eine feste Bleibe; Zelten im Herbst und Winter ist schließlich keine menschenwürdige Lösung. Außerdem hätten wir noch einmal eine Million neue und längst benötigte Sozialwohnungen auf einen Schlag!
Ui, danke für die Quelle und das Zitat! Da gibt es offenbar bereits wissenschaftliche Erhebungen zum Thema - das wundert mich nicht so sehr, immerhin ist das Problem auch nicht neu.
Wie auch im Beitrag extra betont: Ein Blick auf die Zahlen gibt keine Antwort auf alle relevanten Fragen; man kann vermutlich ganze Buchreihen mit den Ursachen und Wurzeln für Extremismus und rechte Gewalt füllen.
Naja, allzuviele Buchreihen mit ernsthaften Analysen dazu gibt es nicht. Die werden auch nicht gebraucht. Die stören nur.
Solche Überlegungen sollten zumindest nicht reflexhaft per se von der Hand gewiesen werden. Und ein Anfangsverdacht ist als realistischer anzusehen, bei all den schon vollzogenen, gewissenlosen Gaunereien der letzten hundert Jahre, als ein ignorantes Wegwischen. Ich habe meine Schlüsse dazu deshalb längst schon gezogen.
Die Ergebnisse davon möchte ich nicht sehen.
Das sehe ich ein wenig anders. Der Artikel von TIMO ESSNER stellt eher einen Versuch dar, den Lichtkegel auf eine der Ursachen für Rechtsextremismus und Rassismus zu richten. Damit werden nicht die Armen und Benachteiligten in diese Ecke gestellt, sondern hieraus müsste natürlich ein Appell an die Verantwortlichen der Existenz dieses für Rechtsextremismus fruchtbaren Bodens abgeleitet werden. Die Verantwortlichen finden Sie jedoch zuallererst in der Politik.
So richtig ich den Widerstand gegen Rechtsextremismus & Co. auch finde, so bedenklich finde ich es auch, dass sich die großen Medien zwar dem Aufschrei in Deutschland anschließen, jedoch tunlichst eine Ursachenforschung unterlassen. Da werden eher Nebenkriegsschauplätze eröffnet (z.B. der Rechtsextremismus als ein vor allem ostdeutsches Problem), statt konkrete Analysen erstellt, warum es denn in (GANZ) Deutschland zu einem derartigen Ausmass von Rechtsextremismus und Rassismus kommen konnte. Allerdings wundert es mich nicht sonderlich, sind doch die großen Medien mittlerweile eher systemstützend eingestellt. Dabei ist es spannend zu sehen, dass einerseits gerade durch die herrschende Politik rechtsextreme Strukturen mit aufgebaut und finanziert wurden, Nazis wieder salonfähig gemacht wurden (z.B. Ukraine), andererseits aber die Politik dann überrascht ist, wenn sie feststellen muss, dass ihre eigene Saat so prächtig aufgegangen ist. Das, was wir in Deutschland an Rechtsextremismus erleben, das gehört eben auch zum Abbild dieser zu großen Teilen entsolidarisierten Gesellschaft.
Ich kann deshalb nur meinen Dank an TIMO richten, der einen Teil der Ursache für das braune Gedankengut dafür um so akribischer beleuchtete.
Es gibt viele Überlegungen dazu. Und ob Armut allein der Grund ist für Fremdenfeindlichkeit - ich glaubs nicht, aber Sie behaupten es ja auch nicht.
Was aber immer im Hintergrund steht, ist die Furcht der Menschen, die vielleicht im Moment noch ganz gut dran sind, vor dem wirtschaftlichen Absturz. Darüber gibts auch Untersuchungen. Eine Mittelschicht "auf der Kippe" ist immer gefährdet. Die Leute, die bei PEGIDA mitgingen verstanden sich eher als Angehörige dieser bedrohten "Mitte", denke ich.
Entschuldige bitte, FEDUF, aber Quellen von bspw. Klagemauer oder ähnlichen haltlos hetzenden Geldschneidern sind nicht legitim, bergen keine Informationen und werden nicht als Datenbasis oder Quelle akzeptiert.
Hallo Herr Schramm, ich hatte es bisher nicht geschafft, ihren sehr umfangreichen, aber nicht minder informativen und sinnvollen Kommentarbeitrag weiter oben angemessen zu behandeln.
Nun legen Sie sogar noch einmal auf gleichem Niveau nach.
Kurz gesagt: Sie haben Recht, der weitere Blick - vor allem auf die Ursprünge des Übels und die weitere Entwicklung-, ist sehr wichtig. Das Thema ist tatsächlich sehr komplex und es wäre mir vermutlich unmöglich, vollumfänglich alle relevanten Entwicklungen und Faktoren einzubeziehen.
Darum bin ich sehr dankbar für Ihre umfangreiche Ergänzung!
Unterm Strich läuft es wohl wirklich auf Ihren Schlusssatz hinaus, den ich gerne unterstreichen möchte: "Nur gemeinsam sind wir stark."
Dazu gilt es nun, den Teufelskreis zu durchbrechen. Dafür brauchen wir tatsächlich alle Menschen im Lande und vor allem alle Parteien und Verantwortlichen in den politischen Spitzen.
DAS ist ein sehr guter Hinweis! Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist vermutlich ein sogar noch größerer Faktor als die soziale Stellung.
Ich will auch nicht ausblenden, dass auch eine ganze Menge latent oder radikal Rechter in den "oberen Etagen" wohnen - von Staatsanwälten, die wegschauen bis zu Politikern mit Stammtischparolen. Das ist ja nicht alles pures Marketing - ich bin mir sicher, dass ein CSU-Herrmann tatsächlich ein richtig eingetrocknetes Weltbild hat. Solche Menschen verfügen in der Regel über ein sicheres, solides Netzwerk; siehe dazu diesen Beitrag aus meiner Heimatstadt Flensburg:
"Auch von seinen Helfern und Beschützern wurde keiner strafrechtlich belangt. Für die vom Kieler Landtag eingesetzten Untersuchungsausschüsse, die die Hintergründe dieses Skandals aufklären sollten, blieb vieles im Dunkeln, da – so Klaus-Detlev Godau-Schüttke – „nur wenige Zeugen ihr ganzes Wissen preisgaben“. Die Liste der vom ersten Ausschuss namhaft gemachten Personen, die vor der Enttarnung Heyde-Sawades 1959 von dessen wahren Identität gewusst hatten, liest sich wie ein Auszug aus dem Who's Who des schleswig-holsteinischen Establishments aus Justiz, Medizin und Ministerialbürokratie."
http://www.shz.de/lokales/flensburger-tageblatt/werner-heyde-der-arzt-ohne-gewissen-id10603181.html
"Den Lichtkegel auf eine der Ursachen für Rechtsextremismus und Rassismus zu richten" - ganz exakt das war die Absicht. Ich bilde mir bestimmt nicht ein, damit das Problem gelöst zu haben - aber statt einer Berichterstattung über Extremismus, muss man dahinter schauen und Ursachen bekämpfen.
Ebenso wie man nicht die Flüchtlinge, sondern die Fluchtursachen bekämpfen muss. Dieser Gedanke scheint ja auch für viele bislang noch neu zu sein.
Ich betrachte jede Berichterstattung zu Extremismus ambivalent:
Einerseits muss man berichten, denn Wegschauen ist natürlich auch keine Lösung. Andererseits spielt man den Extremisten in die Hände im schlimmsten Sinne von "bad publicity = publicity = good publicity".
Nun ja, *räusper* es gibt ja auch Gewinner des Kapitalismus. Die dürfen und sollten auch gerne mitmachen. "Alle" schließt auch jene mit ein.
"Es bedarf der gemeinsamen und organisierten Solidarität aller Opfer des kapitalistischen Gesellschaftssystems!"
Hier schon gelegentlich prophezeiht, die nächste Revolution geht nicht von Werkbänken, sondern aus den Krankenzimmern los... :)
Zum Thema, wurde schon erwähnt, dass Armut über den Schritt der dadurch geringeren Bildung, womöglich indirekt mit einem schlichteren Weltbild einhergehen kann?
Nein, nein und nochmal nein - statistische Kongruenz beweist keine Kausalität. Mir ist die oben beschriebene Erklärung zu billig. Es ist erschreckend, wie sehr Hass und Misstrauen allem Fremden gegenüber auch bei Menschen aus besseren Einkommens- und Vermögensschichten verwurzelt ist. Nur steht hier eben (noch) das soziale Korsett einer Delinquenz in Form von "rechtsextremen Straftaten" entgegen - man hat ja einiges zu verlieren, von daher ist die Schwelle höher. Aber das geistige Brandstiftertum hat man kultiviert und scheut sich mittlerweile auch nicht, es lautstark zu verkünden. Endlich traut man sich. Mag sein, dass dies eine hessische Spezialität ist - nicht umsonst haben Politiker wie Dregger, Koch & Co. hier in Hessen immer mit besonders billigen ausländerfeindlichen Parolen Wahlkampf betrieben. Welchen Erkenntnisgewinn bringt mir das? Ehrlich - ich weiß es nicht, es ist nur erschreckend welch tumbes Dumpfbackentum inzwischen auch bei ansonsten ganz normal erscheinenden Menschen aus der "Mitte der Gesellschaft" feststellbar ist. Es ist kein Armutsproblem. Es ist kein regionales Problem. In Sachsen und MeckPomm trauen sie sich nur eher ans Licht, weil die soziale Kontrolle fehlt.
Ein interessanter Hinweis. Die Wählergruppenverteilung der Republikaner war mir neu - wundert mich aber nicht wirklich. Beamte vermehren sich ja bekanntlich (und sogar statistisch belegt) untereinander. Es waren also die Nachkommen jener, die nach dem Krieg wieder in den Verwaltungen eingesetzt wurden.
Danke für das Feedback! Ich freue mich, dass ich mit dem Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion über die Ursachen anregen konnte - bin aber gleichermaßen (positiv!) überrascht über die rege Anteilnahme.
Nun ja, ganz einfach: Klagemauer.tv macht gezielt und sukzessive Stimmung gegen Muslime. Das ist einfach haltlose Hetzpropaganda, keine seriöse, vertrauenswürdige Quelle.
Man kann das ganz einfach überprüfen: Sind die Darstellungen nachvollziehbar belegt oder recherchierbar? Wie ausgewogen und neutral bzw. tendenziös ist die Sprachführung? Welche Themen werden überwiegend behandelt?
Der Geldschneider-Teil kommt dann im angeschlossenen Shop: Dort gibt es dann "Literatur", welche die Darstellungen bekräftigen sollen - oder als Quelle herhalten.
Schritt 1: Angst schüren; Schritt 2: Kasse machenbzw. anders:
Schritt 1: Marketing; Schritt 2: Umsatz
Das kann man analog beim Kopp Verlag in Kombination mit Kopp Online ("News" plus "Shop") bestaunen, bspw. für die Zielgruppe der Esotheriker und Euroskeptiker.
Preisfrage: Warum haben ARD und ZDF keinen Buchshop?
Hallo Herr Robinson, danke für Ihr Feedback!
Ich hatte das weiter oben schon angemerkt, betone es aber gerne nochmals an dieser Stelle:
Es geht hier lediglich um den Vergleich von Zahlen, um einen Verdacht auf eine Tendenz zu überprüfen. Das klingt sehr vage - und das ist es auch. Statistiken sagen nur selten etwas über die individuelle Lebenswirklichkeit aus, sondern betrachten eine Gruppe zu einem bestimmten Faktor über einen gewissen Zeitraum.
Ich will hier nicht die Gleichung "arm = rechtsradikal" aufstellen, um Himmels Willen!
Ich hege außerdem nicht den Anspruch auf perfekte Allwissenheit; allerdings habe ich mein Ziel erreicht: Der Beitrag konnte einen Gedankenanstoß zur öffentlichen Diskussion liefern.
Ich will auch nicht ausblenden, dass auch eine ganze Menge latent oder radikal Rechter in den "oberen Etagen" wohnen - von Staatsanwälten, die wegschauen bis zu Politikern mit Stammtischparolen. Das ist ja nicht alles pures Marketing - ich bin mir sicher, dass ein CSU-Herrmann tatsächlich ein richtig eingetrocknetes Weltbild hat. Solche Menschen verfügen in der Regel über ein sicheres, solides Netzwerk; siehe dazu diesen Beitrag aus meiner Heimatstadt Flensburg:
"Auch von seinen Helfern und Beschützern wurde keiner strafrechtlich belangt. Für die vom Kieler Landtag eingesetzten Untersuchungsausschüsse, die die Hintergründe dieses Skandals aufklären sollten, blieb vieles im Dunkeln, da – so Klaus-Detlev Godau-Schüttke – „nur wenige Zeugen ihr ganzes Wissen preisgaben“. Die Liste der vom ersten Ausschuss namhaft gemachten Personen, die vor der Enttarnung Heyde-Sawades 1959 von dessen wahren Identität gewusst hatten, liest sich wie ein Auszug aus dem Who's Who des schleswig-holsteinischen Establishments aus Justiz, Medizin und Ministerialbürokratie."
http://www.shz.de/lokales/flensburger-tageblatt/werner-heyde-der-arzt-ohne-gewissen-id10603181.html
Danke für das Feedback und die ergänzende Quelle! Leider haben die Redakteure der "Welt" es versäumt, die Studie zu verlinken. Aber das lässt sich sicherlich recherchieren.
Um zu unterstreichen: Die Analysen des Arbeitsmarktes liegen monatlich vor, mit jeweils einem Monat Verzögerung (also die Daten für Juli liegen im August vor):
https://statistik.arbeitsagentur.de/Navigation/Statistik/Statistik-nach-Regionen/Politische-Gebietsstruktur-Nav.html
Die Daten der Straftaten stammen dagegen aus dem Vorjahr, da 1. die gesammelten Daten für das Kalenderjahr 2015 logischerweise noch nicht vorliegen und 2. die Straftaten in der Regel erst NACH Abschluss der Verfahren in den Statistiken auftauchen. Das dauert in der Regel etwa ein Jahr, manchmal länger (je nach Aufwand des Verfahrens oder Aus- bzw. Überlastung des zuständigen Gerichts).
Der Vergleich ist also nicht gaaanz so sauber, aber die Arbeitsmarktdaten variieren gegenüber dem Vergleichszeitraum 2014 kaum, daher habe ich an der Stelle die aktuellsten Vergleichszahlen von der Bundesarbeitsagentur herangezogen.
Ebenfalls ein guter Einwand. Bildung setzt Lernwillen und -fähigkeit voraus. Das ist wohl auch ein sehr entscheidender Faktor für die Fähigkeit zur Empathie mit Fremden und Notleidenden.