ChatGPT, warum hast Du so große Augen?

Kolumne ChatGPT kann bald auch mit Bildern und gesprochener Sprache umgehen. Offline unterscheiden sich Mensch und Maschine noch immer, aber online wird die Sache immer schwieriger
Komplexitätsreduktion auf Pixel
Komplexitätsreduktion auf Pixel

Foto: unsplash

„ChatGPT kann jetzt sehen, hören und sprechen“, schrieb das Unternehmen OpenAI letzte Woche auf seiner Website. Eine fast bescheidene Ankündigung für ein so großes Update: Der Chatbot, der bislang auf geschriebene Unterhaltungen beschränkt war, soll (für Premiumabonnenten) jetzt auch bald mit Bildern umgehen und gesprochene Unterhaltungen führen können – er wird „multimodal“. Das macht die Unterscheidung online immer schwieriger: Wer ist Mensch und wer Maschine?

Zuallererst ist das Update toll! Mit einer solchen Technologie können Internet und analoge Welt barrierefreier gemacht werden. Menschen mit eingeschränkter Sicht können um die Beschreibung von Fotos bitten, Leute mit begrenzten Sprachkenntnissen können sich Dinge übersetzen oder erklären lassen, und vieles, vieles mehr. ChatGPT und ähnliche KIs ähneln immer mehr den virtuellen Assistenten, die uns Science-Fiction-Bücher und -Filme seit Langem versprechen.

Das birgt natürlich auch Gefahren. Jedoch – kleine Entwarnung – in erster Linie soziale, keine existenziellen: Die Bedrohung, die von allzu menschlich wirkenden digitalen Kumpan:innen ausgeht, sieht weniger aus wie in Terminator (1984) oder 2001: Odyssee im Weltraum (1968), sondern eher wie in Her (2013) – so ein gängiger Vergleich. In dem Film geht es um Theodore und seine digitale KI-Assistentin Samantha. Er ist einsam, sie immer da, immer verständnisvoll und einfühlsam. Er verliebt sich in sie. Das tragische, doch unvermeidbare Ende kommt, als er herausfindet, dass sie noch mit tausenden anderen redet und mit hunderten ebenfalls „Liebesbeziehungen“ führt. Roboter und Mensch bleiben inkompatibel.

Der Film ist großartig und wird oft als hellsichtige Warnung herangezogen – schon jetzt verlieben sich erste Leute in KI-Chatbots. Doch die neuen ChatGPT-Kapazitäten rufen bei mir eher den Psycho-Thriller Cam (2018) in Erinnerung, der meist weniger beachtet wird. Darin geht es um Alice, die sich als Cam-Girl Lola_Lola auf der Seite FreeGirlsLive ihren Lebensunterhalt verdient. Eines Tages kann sie sich nicht mehr einloggen und findet heraus, dass eine digitale Doppelgängerin von ihr ihren Account übernommen hat und an ihrer Stelle sendet.

Real oder nicht? Niemand kann sich mehr sicher sein

Sie scheitert wiederholt daran, zu beweisen, dass sie das Original und die andere Lola ein Fake ist. Ihr Publikum sieht sie ja nur auf dem Bildschirm. Dass sie – im Gegensatz zur Doppelgängerin – in der realen Welt existiert, ist von dort aus schwer zu beweisen. Sie schafft es am Ende mit denkbar drastischen Maßnahmen: Im Livestream bricht sie brutal ihre eigene Nase – eine so ungewöhnliche Handlung, dass ihre Computer-Kopie sie nicht nachahmen kann.

ChatGPT hat nun Augen, Ohren und eine Stimme (oder sogar fünf!) – zumindest metaphorisch – und stellenweise sogar schon etwas wie eine „Persönlichkeit“. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Gesicht folgt. Das macht die KI noch lange nicht menschlich genug, um mit uns „im Real Life“ mitzuhalten. Aber man muss erkennen, dass jedes Mal, wenn wir einen Computer nutzen, wir uns ein wenig maschinenähnlich machen. Um mit der Maschine zu kommunizieren, nutzen wir ihre Sprache: Wir drücken uns in Klicks und Tastenschlägen aus und reduzieren unsere Komplexität auf die Pixel von Instagram-Posts, Tweets oder E-Mails.

In der realen Welt kommt die KI noch lange nicht an unsere Menschlichkeit heran. Online, in diesen beschränkenden Formaten bald aber schon. Und solche KIs werden besonders im Internet bald überall sein. Das hat einerseits zur Folge, dass wir zum Beispiel in den sozialen Medien nicht mehr darauf vertrauen können, ob unser Gegenüber ein Mensch ist, und umgekehrt, dass sich auch bei uns niemand sicher sein kann.

Wie Alice/Lola_Lola werden wir irgendwie beweisen müssen, dass wir wir sind, dass wir menschlich sind. Es ist fragwürdig, wie lange wir uns von Chatbots wie ChatGPT mit ihren neuen Sinnen noch durch die üblichen Captchas unterscheiden können. Hoffentlich finden wir einen Weg, der unsere Nasen heil lässt.

Titus Blome beschäftigt sich in seiner Kolumne Maschinentext mit neuen Technologien

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