Der Utopie nicht gewachsen?

Revolution Heute jährt sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal. Eine Ausstellung in Berlin betont zwanghaft das Scheitern und verfehlt so die Euphorie der Utopie

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Ein Schild in Samara
Ein Schild in Samara

Foto: Mladen Antonov/AFP/Getty Images

Während man sich im Ursprungsland Russland und vor allem in einigen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten eher bedeckt hält, was das Gedenken an die Revolution von 1917 angeht, die dort auch lieber “Umsturz” genannt wird, wurde in Berlin kurz vor dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution eine große Ausstellung im Deutschen Historischen Museum eröffnet. In Berlin, wo diese Revolution auch gewissermaßen erst im November 1989 endete und ihre Folgen noch heute allenthalben zu besichtigen sind. Doch während die Sowjetunion nach 1989 zerfiel, wuchsen Berlin und Deutschland (wieder) zusammen, zumindest auf dem Papier. Vor hundert Jahren sollte allerdings auch der Vielvölkerstaat Russland (die Berliner Ausstellung lokalisiert hier 130 Sprachen!) zusammenwachsen. Die Voraussetzungen waren freilich völlig andere.

Die Ausstellung mit dem nüchternen Titel “1917. Revolution. Russland und Europa” will uns diese Voraussetzungen näherbringen. In einer von zehn Videosäulen im Vorraum erinnert uns zum Beispiel Gregor Gysi daran, dass Marx ja ursprünglich gefordert hatte, die sozialistische Revolution könne mit Erfolg nur im industriell am weitesten entwickelten kapitalistischen Land durchgeführt werden. Lenin leider glaubte, ihm könne das auch im rückständigsten gelingen.

Diese Rückständigkeit zeigt uns der Beginn der Ausstellung zwar auch in Form der enormen Ungleichheit innerhalb der russischen Gesellschaft. Das Zarenreich steckte um 1900 aber gewissermaßen noch im Feudalsystem. Dem luxuriösen Lebensstil des Adels standen armseligste Lebensbedingungen beinah der gesamten übrigen Bevölkerung gegenüber, 80 Prozent waren Bauern. Deren Rechte blieben auch nach Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 beschränkt, die Bauern waren zwar formell frei, aber bei ihren ehemaligen Grundherren verschuldet. Die Agrarproduktion war völlig unzureichend, die Industrialisierung kam nur schleppend in Gang.

Die Ausstellung veranschaulicht dies alles etwas gewollt, indem sie hinter einem auf eine Leinwand gedruckten Porträt der Zarenfamilie das Gespenst des Kommunismus in Form einer Büste von Karl Marx durchscheinen lässt, dessen Kapital 1873 ins Russische übersetzt wurde.

Die Niederlage im Krieg gegen Japan 1904/5 untermauerte die russische Rückständigkeit. Eine erste Revolution 1905 und merkliche Besserung durch erste demokratische Reformen waren die Folge. Doch dann kam der Erste Weltkrieg. Das nach wie vor überwiegend agrarisch geprägte Russland war von der industriellen Kriegsführung überfordert. Streiks und Proteste führten schließlich 1917 zunächst zur Februarrevolution, in der die Monarchie zu Fall gebracht wurde, und anschließend zur Oktoberrevolution, in der die Bolschewiki die Macht übernahmen, und das Land in einen Bürgerkrieg stürzte, der erst mit der Gründung der Sowjetunion 1922 offiziell beendet war.

Die Ausstellung dokumentiert hier durch zwei offizielle Telegramme auch den Anteil des Deutschen Reichs an diesen Vorgängen, das durch finanzielle Unterstützung der Bolschewiki deren Forderung nach einem Waffenstillstand stärken und die russische Regierung destabilisieren wollte. Im April 1917 gewährte man legendär die Durchfahrt des exilierten Lenin von Zürich nach Petrograd in einem zum exterritorialen Gebiet erklärten Eisenbahnwagon, der allerdings nicht – wie die Legende lautet – plombiert war. Eine Reihe von Devotionalien zeigen auch den Personenkult um den Revolutionsführer und Staatsgründer.

In der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Revolution wird zwar richtig, aber vielleicht auch etwas zwanghaft in jedem zweiten Satz der Utopie des “neuen Menschen” die Verfolgung der Andersdenkenden gegenüber gestellt. Der Terror Stalins ist dann allerdings nicht mehr Teil der Ausstellung. Seine Machtübernahme nach dem Tod Lenins markiert gewissermaßen das endgültige Ende der Revolution und besiegelt das Scheitern ihrer Ideale. Von diesen sehen wir Bilder der Völkerfreundschaft, Zeugnisse der Frauenemanzipation, Dokumente des Aufbruchs der Architektur und der Künste. Ein großer Raum ist aber auch den Massen von Emigranten gewidmet, die sich zur Flucht ins Ausland gezwungen sahen. Doch auch die Sowjetunion als “Sehnsuchtsort” für Immigration wird thematisiert.

Weltrevolution

Ein Kernstück der Ausstellung ist schließlich die Darstellung der Wirkung der russischen Revolution auf andere europäische Länder, illustriert durch ein riesenformatiges Gemälde von Isaak Brodski, sein monumentales Wimmelbild von Lenins Eröffnungsrede beim zweiten Kongress der Komintern 1924, durch die die Kommunistische Partei der Sowjetunion die Weltrevolution in die Wege leiten wollte. Dies gelang bekanntlich nur bedingt. An einigen Beispielen werden die wechselvollen Wirkungen der Revolution in Europa veranschaulicht.

Polen und Ungarn erlangten Unabhängigkeit, das eine als Republik, das andere zunächst als erste Sowjetrepublik nach russischem Vorbild, bald darauf jedoch wieder als Monarchie. Dauerhaft sozialistisch wurden sie beide erst im Zuge des Zweiten Weltkriegs.

Auch in den Siegermächten Frankreich, Großbritannien und Italien bekamen kommunistische Bewegungen Aufwind, ohne allerdings revolutionäre Bestrebungen durchsetzen zu können. In Frankreich entwickelte sich die Kommunistische Partei allerdings zu einer bis heute bedeutenden Kraft. In England wurden linke Positionen erfolgreich nur von der Labour Party, die 1924 erstmals die Regierung bildete, ins politische Spektrum integriert.

In Italien dagegen war die Sozialistische Partei zunächst so erfolgreich (1919 wurde sie stärkste Kraft im Parlament), dass ihre Reformen zunehmend Angst vor “russischen Verhältnissen” hervorriefen. Folge war der Aufstieg Mussolinis und seine Errichtung der ersten faschistischen Diktatur ab 1922.

In Deutschland ging es bekanntlich nicht ganz so schnell. Zunächst kam es mit Kriegsende auch hier zur Revolution und zur Gründung einer parlamentarischen Demokratie. Die junge Republik sah sich allerdings gezwungen, den kommunistischen Spartakusaufstand brutal niederschlagen zu lassen, und zwar von eben den rechten Freikorpsgruppen, deren spätere Putschversuche ihrerseits bürgerkriegsähnliche Zustände hervorrufen sollten. Die Ausstellung dokumentiert mit einschlägigen Plakaten den Propagandakrieg.

Vielmehr Ausblick gibt es allerdings nicht. Die Russische Revolution wird zwar als „Schlüsselereignis für das Verständnis des 20. Jahrhunderts“ und seiner Polarisierung der Welt in zwei Blöcke vorgestellt, allzu aktuelle Verbindungslinien, etwa zur Nato-Osterweiterung oder zur Ukrainekrise werden aber nicht gezogen. Stattdessen gibt es im Epilog zur historischen und kritischen Einordnung zahlreiche Äußerungen von Zeitzeugen und drei Kunstwerke aus DDR, BRD und USA zu sehen.

Während etwa die große Tänzerin Isadora Duncan in einem Zitat von 1924 Lenin und Christus beide als Gott mit “nichts als” Liebe gleichsetzt, zeigt die lebensgroße rote Skulptur Alexander S. Kosolapovs von 2007 unter dem Titel Hero, Leader, God Lenin und Jesus, die in ihrer Mitte Mickey Mouse an der Hand führen.

Die deutsch-georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili hält in ihrer Videobotschaft im Ein- und Ausgangsbereich den Reiz der Revolution für gefährlich, weil die Menschheit deren utopischen Idealen nicht gewachsen sei. Für den russischen Autor Wiktor W. Jerofejew spiegelt dagegen die Revolution gerade “das Ergebnis nicht realisierten utopischen Denkens”. Gregor Gysi hofft daher auf ihr einstmaliges Gelingen unter demokratischen Vorzeichen.

Es ist alles in allem eine schön gestaltete Ausstellung, im Zusammenspiel von historischen Dokumenten und Kunstwerken mit Leihgaben aus aller Welt. Der Wechsel aus engen Gängen und überraschend sich öffnenden Durchblicken ist von den Kuratorinnen Julia Franke und Kristiane Janeke so gewollt. Die Barrierefreiheit und Inklusivität ist mit Brailleschrift, Bodenmarkierungen, Leichter Sprache und Gebärdensprache vorbildlich.

Die nüchterne Darstellung lässt allerdings im Angstschweiß des Scheiterns auch die Euphorie der Utopie etwas vermissen. Fast so, als wollte man vermeiden, dass sich aus Versehen jemand anstecken lassen könnte.

1917. Revolution. Russland und Europa, bis 15. April 2018, Deutsches Historisches Museum, Berlin

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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