Jenseits von Gegenwart

Zeitkomplex Die kapitalistische Gegenwart wird zunehmend von einer automatisierten Zukunft bestimmt und geschluckt. Da hilft nur Spekulieren und Grammatik, meint ein neuer Textband

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Man hätte eigentlich glauben sollen, dass spätestens mit dem Ende des 'Endes der Geschichte' und seiner Spielart der (Post-)Postmoderne auch die Rede von 'Post-dieses', 'Post-jenes', 'Post-alles' aufhören, oder zumindest etwas abebben würde. Die Karriere der Postdemokratie und aktuell des Postkapitalismus lassen allerdings eher etwas anderes vermuten. Das Problem an einer solchen negativen, nur in einer Abgrenzung bestehenden Begriffsbildung ist ja, dass sie (noch) nicht sagt, was sie will, sondern erst einmal nur, was sie nicht will. Als Zwischenschritt mag das ja in Ordnung, manchmal gar notwendig sein, – solange man nicht dabei stehen bleibt.

Insofern gibt ein neuer Textband, den die Philosophen Armen Avanessian und Suhail Malik gerade bei Merve herausgegeben haben, ein ganz ordentliches Vorbild ab. Das „Post-“ ist hier nämlich immerhin in den Untertitel abgewandert, um dem Platz zu machen, worum es eigentlich gehen soll: Der Zeitkomplex. Postcontemporary. Der Band behandelt die Diagnose einer parallelen Entwicklung des neoliberalen Kapitalismus und der zeitgenössischen Kunst aus akzelerationistischer Perspektive, auch wenn dieser häufig missverstandene Terminus inzwischen weitgehend vermieden wird.

Ausgangspunkt ist die im einleitenden Gespräch der Herausgeber vorgestellte These, dass die westlichen Industriegesellschaften seit den 1960er oder 70er Jahren, also parallel zur Entstehung der Postmoderne, aber auch zum Aufstieg des neoliberalen Kapitalismus, zunehmend von einer neuen Zeitwahrnehmung geprägt werden. Avanessian und Malik nennen das den „spekulativen Zeitkomplex“, in dem nicht linear Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander folgen, sondern die Gegenwart mehr und mehr von Vergangenheit und Zukunft her bestimmt und gewissermaßen verschluckt werde. Das führe einerseits zu einem allgemeinen „post-von-allem“-Zustand, der mit der Vergangenheit abzuschließen meint, aber eben dadurch weiter von ihr bestimmt bleibt; andererseits (und im vorliegenden Band vornehmlich thematisiert) zur zunehmenden Bedeutung des „Präemptiven“, das in der Gegenwart die Zukunft vorwegnimmt. Beides aber führe letztlich „jenseits von Gegenwart“, zu einem Verschwinden der Gegenwart und damit gewissermaßen der Zeitlichkeit überhaupt, weil die verschiedenen Zeiten zunehmend verschwimmen.

Das Präemptive

Die präemptive Personalisierung (Beispiel Amazon) bestimmt durch algorithmische Verfahren unsere zukünftigen Wünsche und Bedürfnisse und verkauft uns idealerweise ein Produkt, das wir tatsächlich brauchen, ohne das schon gewusst zu haben (was in der Tat etwas paradox klingt). Im weniger idealen Fall erzeugt sie in uns einfach erst genau die Wünsche, von denen sie berechnet hat, dass wir am meisten geneigt sein werden, sie als Bedürfnisse zu empfinden, und sie uns deswegen auch erfüllen (wollen).

Die präemptive Polizeiarbeit (vielen wohl bekannt aus dem Science-Fiction-Klassiker Minority Report von Philip K. Dick und Steven Spielbergs Verfilmung) versucht, potenzielle Straftäter schon heute danach zu erfassen, was sie in der Zukunft tun werden, bevor sie es wirklich getan haben. Dass ein solches Vorgehen sehr leicht erst die Fakten selbst erzeugt, die es auch vorausgesehen haben will, wird deutlich auch an der viel kritisierten militärischen Strategie des Präemptivschlags, den Avanessian so beschreibt: „Man wirft irgendwo Bomben ab und danach findet man den Feind, den man erwartet hat. Man produziert eine Situation, die ursprünglich eine Spekulation war.“ Auch dies also eine „Vorwegnahme der Zukunft“.

Ein Grundmodell solcher spekulativen Operationen sind übrigens auch Finanzderivate, die bereits im Mittelalter aufkamen, aber erst seit der Eröffnung der ersten Derivat-Börse 1973 in Chicago wesentlich zum Aufstieg dessen beigetragen haben, was Avanessian den gegenwärtigen „Finanzfeudalismus“ nennt. Auch beim Derivathandel wird eine zukünftige Preiserwartung oder Spekulation dazu genutzt, um in der Gegenwart Profite zu erzielen.

Komplexe Grammatik

Avanessian und Malik wollen aber nun diesen spekulativen Zeitkomplex nicht verdammen, sondern ihn zunächst einmal systematisch erfassen, um angemessen mit ihm umgehen und ihn für eigene politische Ziele nutzen zu können. Denn die üblichen linken wie rechten Reaktionen auf die spekulative Zeitstruktur und deren Verlust einer stabilen Gegenwart seien unzureichend und würden ihrer Komplexität nicht gerecht. Während Konservative durch die Stabilisierung überkommener Ordnungen ihr Heil in der Vergangenheit als Gegengewicht einer unsicheren Zukunft suchen, werde in der kritischen Linken (wie auch in der „zeitgenössischen“ Kunst)im Konzept der Zeitgenossenschaft die Gegenwart als Ort des Widerstands gegen eine neoliberale Zukunft verherrlicht. Doch ohne eine eigene Vorstellung der Zukunft lasse sich auf die gegenwärtigen Machtstrukturen kaum ernsthaft Einfluss ausüben.

Avanessian und Maliks Versuch, sich dieses Zeitkomplexes anders zu bemächtigen, beginnt spannenderweise bei der Grammatik, denn sie und ihre Tempora und Modi seien es, die unsere Zeiterfahrung strukturieren. Das „Zeitgenössische“ aber kenne allein das indikative Tempus Präsens, das es auch auf Vergangenheit und Zukunft ausdehne und sich somit einer echten Zukunft beraube. Es brauche stattdessen ein modales Verständnis von Zeit, das in der Lage ist, verschiedene Modi und Tempora miteinander zu verknüpfen und erst so transformatives Handeln für eine offene Zukunft zu konzeptualisieren, anstatt einer automatisierten Zukunft unterworfen zu sein: „Eine Zukunft geschieht nur dann in der Gegenwart, wenn ein Konjunktiv erfolgreich realisiert wird, was durch einen Imperativ geschieht.“

Zeitgenossenschaft aus der Zukunft

Avanessian nennt das eine „Zeitgenossenschaft aus der Zukunft, eine Art von Zukunftsgenossenschaftund stellt sie als eine auch politisch handlungsfähige „Poetik“ der bloß präsens- und erfahrungsfixierten „Ästhetik“ des Zeitgenössischen gegenüber. Malik weist jedoch auf die Notwendigkeit hin, den spekulativen Zeitkomplex auch mit nicht-linguistischen Begriffen zu beschreiben.

Dieses lange einleitende Gespräch (mit 30 Seiten der längste Beitrag des Bandes) enthält zwischendurch noch längere Passagen über das Verhältnis von Neoliberalismus und Kunst, über den Unterschied zwischen derridascher différance und akzelerationistischer Differenz, und es wird damit auch endlich einmal der Unterschied zwischen Akzeleration und Beschleunigung erklärt. Die geäußerte Forderung allerdings, den Zeitkomplex vollständig systematisch zu erfassen, kann dieses Gespräch naturgemäß noch nicht umfassend einlösen. Doch mit ihm zusammen liefern die folgenden Beiträge dafür zumindest einige Propädeutika.

Hyper-Zeitgenossenschaft und Risiko

Elena Esposito spitzt in ihrem Text einige Aspekte des Gesprächs zu. Die Zukunftslogik des Derivats sei als der des Kredits vergleichbar schon seit Jahrhunderten Grundlage der Finanzwirtschaft. Ihre derzeitige Verschärfung bedeute deshalb noch keine post-zeitgenössische Haltung, sondern eher eine „Hyper-Zeitgenossenschaft“, in der die Gegenwart sich die Zukunft einverleibe. Zur Kennzeichnung des Post-Zeitgenössischen verwendet Esposito dagegen Ulrich Becks auch von Malik aufgenommenen Begriff der Risikogesellschaft, für die die Zukunft tatsächlich (wieder) offen und unverfügbar sei. Ein Umstand, der in der zeitgenössischen Kunst vor allem im Aspekt der Performativität reflektiert werde.

Nick Srnicek und Alex Williams fassen daraufhin einige Thesen ihres Buchs Inventing the Future zur Zukunftspolitik einer Post-Arbeitsgesellschaft zusammen. Und Aihwa Ong stellt im Gespräch mit den Herausgebern ihr Konzept einer kosmopolitischen Wissenschaft vor, das sich zwischen alteuropäischem Universalismus und postkolonialem Lokalismus auf globale, „transnationale Dynamiken“ fokussiert.

Menschenrechte, Kunst und Design

Victoria Ivanova vergleicht in ihrem spannenden Beitrag das moderne System der Menschenrechte mit dem der zeitgenössischen Kunst als jeweils eine legalistische bzw. marktorientierte Form des Liberalismus zur Vermittlung globaler gesellschaftlicher Problemkomplexe. Hat zwar der Legalismus die Entstehung globaler Märkte überhaupt erst ermöglicht, habe die Flexibilität des Marktliberalismus ihm inzwischen den Rang abgelaufen. Ursprünglich hervorgegangen aus dem europäischen Imperialismus, trage das Menschenrechtsregime nicht nur inhärent ungerechte Züge, es sei auch zu starr, um in der heutigen neoliberalen Marktwelt weiter tonangebend sein zu können. Wenn dies dagegen auf die zeitgenössische Kunst zutrifft, bedeute das allerdings nicht, dass deren Fähigkeit zur Reflexion und Vermittlung gegenwärtiger Problemlagen zugleich auch passende Lösungen anbieten könne. Dazu sei es vielmehr nötig, den phänomenologisch-anthropozentrischen liberalistischen Handlungsrahmen der zeitgenössischen Kunst zu verlassen.

Die dafür einzuschlagende Richtung zu markieren, versucht nun Benjamin Bratton im neben der Einleitung längsten, dabei aber stilistisch lesenswertesten und unterhaltsamsten Text des Bandes, Zum Spekulativen Design (hervorragend aus dem Englischen übersetzt wurden sämtliche Beiträge durch Ronald Vouillé). Es gehe bei diesem „sozialen und ökologischen Projekt“ darum, ein „benutzerfreundliches“ Design „nach menschlichem Maß“ in Richtung auf überhaupt erst wieder designenswerte Zukünfte hin zu überschreiten. Dabei kommt der Sphäre des Materiellen eine besondere Bedeutung zu: Wie schon die kapitalistische Ökonomie des „ersten Maschinenzeitalters“ und damit des zu überwindenden modernen Designs wesentlich von der Chemie seiner Materialien bestimmt war, gelte ähnliches für die heutigen Technologien etwa der Genetik, des Internets der Dinge oder der Künstlichen Intelligenz.

Materialismus und Zivilisation

Dieser „neue Mate­rialismus“ soll unerkannte Potenzialitäten der Gesellschaftsgestaltung entdecken und dadurch „die kognitiven Krisen der Globalisierung(en) (Fundamentalismus, Nativismus, Finanz-Idealismen, etc.) auf sich selbst zurück[werfen], sodass sich schließlich ein für alle Mal etwas entwickeln kann, was den Namen »Zivilisation« wirklich verdient.“ Dazu brauche esein Design, das den Möglichkeiten des Realen entspricht, keine Realität, die auf das Verträgliche heruntergetaktet wird.“

Ein Gespräch mit dem xenofeministischen Kollektiv Laboria Cuboniks sowie ein literarisierender Essay von David Roden beschließen den Band, mit dem Avanessian und Malik das zunehmend weniger so genannte akzelerationistische Projekt fortführen: die linke Kritik des Kapitalismus erst einmal auf dessen operatives Niveau zu bringen, um ihm nicht immer nur hinterherzuhecheln, sondern ihn vielleicht sogar irgendwann überholen zu können. Die Textsammlung bietet dazu vielfältige Anregungen, aber lässt die von den Herausgebern selbst geforderte umfassende Systematik weiterhin noch erwarten.

Dieser Beitrag erscheint demnächst auch bei demokratiEvolution.

Armen Avanessian/Suhail Malik (Hg.), Der Zeitkomplex. Postcontemporary, Merve, Berlin 2016, ca. 160 S., 15 €.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

Tom Wohlfarth

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