Warum uns eine Impfpflicht in diesem Corona-Winter nicht helfen wird

Lockdown Die Inzidenzen steigen dramatisch. Politiker:innen bringen nun eine Impfpflicht ins Spiel, um sich im Kampf gegen die Pandemie zu profilieren. Sie machen es sich damit wieder einmal einfach
Ausgabe 47/2021
Nicht nur politisch, auch rechtlich wird über das Thema einer Impfpflicht heftig debattiert
Nicht nur politisch, auch rechtlich wird über das Thema einer Impfpflicht heftig debattiert

Foto: Thomas Kienzle/AFP/Getty Images

Darf der Staat, um die Gesundheit vieler zu schützen, den Einzelnen versehren? Wiegt der Bevölkerungsschutz schwerer als das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung? Vor knapp einem Jahr, als Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Impfpflicht erstmals ins Spiel brachte, hatten Verfassungsrechtler noch Bedenken. Damals war es „nur“ um die Pflegekräfte gegangen, und der Versuchsballon platzte. Eine Impfverpflichtung für alle hätte auch Söder damals nicht gefordert, denn, wir erinnern uns, das Impfchaos war immens.

Nun ist die Debatte um die allgemeine Impfpflicht auch hierzulande aufgeflammt, weil die Trotzburg der Impfunwilligen nicht aufzubrechen ist. Weil sich herausgestellt hat, dass sich die Delta-Variante des Virus auch nicht in Schach halten ließe, wenn 75 Prozent der Bevölkerung – wie einmal behauptet – geimpft wären. Weil die Impfstoffe nicht alle Versprechen gehalten haben. Und weil die Politik, wie schon im Jahr zuvor, gehofft hatte, sie käme irgendwie davon, ohne den Hammer rauszuholen.

Wie Ertrinkende greifen nun einige Ministerpräsidenten nach diesem letzten Mittel, vom Grünen Winfried Kretschmann im Süden über die Unionsgetreuen Reiner Haseloff und Hendrik Wüst in der Mitte bis Daniel Günther im Norden. Alle haben sie eine Impfpflicht immer dementiert, vor allem im politischen Berlin. Und selbstverständlich weiß jeder, der sie nun fordert, dass sie gar nichts mehr nützen wird in diesem Winter, weil es zu lange dauert. „Energieverschwendung“, umschreibt es der scheidende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Er hat nicht ganz unrecht: Eine Impfpflicht würde ihre Wirksamkeit voraussichtlich erst im Herbst 2022 entfalten.

Aber nicht nur politisch, auch rechtlich wird über das Thema heftig debattiert. In der Abwägung der Rechtsgüter haben sich viele Juristen – soweit erkennbar, nur Männer – nun entschieden, eher die Befürworter:innen der Impfpflicht zu munitionieren. Der Rechtsexperte Uwe Volkmann etwa argumentiert, der Eingriff in die Rechte des Einzelnen bei einer Impfpflicht sei geringer als die drohenden Freiheitsbeschränkungen für alle. Und ein positives Recht sei allemal akzeptabler als die moralische Ausgrenzung von Ungeimpften. Es gibt aber auch Gegenreden wie die des Verfassungsrechtlers Dietrich Murswiek, der eine generelle Corona-Impfpflicht für klar verfassungswidrig hält.

Doch selbst wenn sie vor dem Bundesverfassungsgericht standhielte, ist der politische Schaden gar nicht absehbar. Vielleicht wird es den einen und die andere geben, die sich doch für den Piks entscheiden; das Lager der Impfgegner:innen würde sich dagegen bestätigt sehen. Der Vertrauensverlust könnte infektiös werden, denn in Umfragen spricht sich nur eine knappe Mehrheit der Bevölkerung für eine Impfpflicht aus.

Historisch gesehen hat die Bekämpfung von Seuchen den Staat immer gestärkt. In einer stark individualisierten Gesellschaft jedoch, in der sich aus neoliberaler Sicht der Staat zurückziehen soll und die Entscheidungen dem Markt der Einzelwillen überlassen sind, ist obrigkeitliches Durchgreifen gefährlich, zumal dann, wenn sich der Staat zuvor als mehr oder weniger fähiger Seuchenwächter erwiesen hat. Und wer glaubt, dass bei einer offiziellen Inzidenz von über 400 Ende November mit der Impfpflicht ein Lockdown noch zu verhindern sei, hat von dieser Pandemie überhaupt nichts verstanden.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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