Peter Sloterdijk über fossile Energien: „Die pyrotechnische Kultur geht gewaltsam vor“
Interview Ute Cohen sprach mit dem Philosophen Peter Sloterdijk über fossile Energien, grünen Leninismus, eine Welt ohne Nationalstaaten – und die Offenbarung
Ute Cohen: Ihr jüngstes Buch „Die Reue des Prometheus“ enthält eine Abrechnung mit der pyrotechnischen Zivilisation, den Ausbeutern fossiler Energien und kollektiven Brandstiftern. Applaus kommt von klimabewegten Kapitalismuskritikern. Ist das ein Applaus von der falschen Seite?
Peter Sloterdijk: Nein, denn Applaus von der falschen Seite ist eine Kategorie, die zur Meinungszensur gehört. Überall wo dogmatische Korrektheitsvorstellungen blühen, dort ist auch die Furcht vor der Zustimmung der „falschen Seite“ am Werk. Die sollte niemand haben müssen. Jeder sollte sagen, was er zu sagen hat, ohne die Reaktionen zu kalkulieren. Entweder man meint, was man sagt, oder man meint es nicht.
Nicht der Kapitalismus steht in Ihrem Buch unter Beschu
, was man sagt, oder man meint es nicht. Nicht der Kapitalismus steht in Ihrem Buch unter Beschuss, sondern die Internationale der Feuerfanatiker. Es scheint, Sie stellen einen direkten Zusammenhang her zwischen fossilen Energien und dem despotischen Charakter eines politischen Systems. Als Beispiel führen Sie Russland an. Bedeutet die Missachtung der Erde immer auch die ausbeuterische Geringschätzung des Menschen? Zunächst liefen die Vorgänge ja in der anderen Richtung ab. Jahrtausende lang war die erst spät explizit gemachte Formel von der „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ in Kraft, namentlich in den Gesellschaften, die unter der Ausbeutung der bäuerlichen Bevölkerungen durch bewaffnete Grundherren, genannt die Adligen, zu leiden hatten. Bis dahin spielten fossile Energien eine sehr untergeordnete Rolle. Viel später erst, mit den aufkommenden Industrien des 18. Jahrhunderts, richtete sich der Blick der modernen Unternehmer und Staaten auf die Erde als Inbegriff von „Rohstoffen“ und Kraftreserven. Deren Einsatz machte es möglich, Menschensklaven durch Maschinen oder, wenn Sie so wollen, metallische Sklaven zu ersetzen. In der Universalgeschichte der Sklaverei löst die Erde als Gesamtsklavin und integrale Ressource die Menschensklaverei weitgehend ab. Mit enormen Folgen? In der Tat, durch die feuerbasierte Maschinenkraft wird Abolitionismus möglich. Zwei Arten von Naturkräften sind durch die Abschaffung der Sklaverei und der Armut besonders betroffen, weil sie jetzt die Mehrbelastung zu tragen haben: die fossilen Energien und die animalischen Proletariate. Man vergesse nicht, die Proletarisierung der Tiere in der Massentierhaltung ist ein wesentlicher Nebeneffekt der Wende zu modernen Verhältnissen. Ohne Ausbeutung der Erdöllager für massive Futterproduktion keine massenhafte Tierzucht. Es scheint, jede überwundene Ausbeutung im humanen Bereich wird von einer Ausbeutungsverschiebung auf andere Bereiche abgelöst. Im Übrigen war die Ausbeutung des Menschen durch seinesgleichen über die längste Zeit gekoppelt an die vorerst noch mäßige Ausbeutung der Erde zugunsten eines relativ schmalen Mehrprodukts, das den beiden ersten Ständen, Klerus und Adel, in die Hände fiel. Bei den Hirtenvölkern war die mäßige Ausbeutung der Herden das herrschende Prinzip, soweit sie nicht die Plünderung von Bauerndörfern als Nebeneinkunftsquelle betrieben. Kann eine nicht feuerbasierte Energiegewinnung überhaupt gelingen? Wie wird das vonstattengehen? Friedlich oder gewaltsam? Das weiß ich nicht. Gewaltsam geht jedenfalls die pyrotechnische Kultur vor, indem sie die dem Feuer inhärente Gewalt entfesselt. Die nicht pyrotechnischen Formen der Energiegewinn sind fürs Erste friedlicher Natur: Gärung, Strahlenkollekte, Elektromagnetik, Fluss- und Gezeitenkraftwerke. Für einen gewaltsamen Paradigmenwechsel ist kein Grund gegeben, es sei denn, die Internationale der Pyrotechnik verhindert den Wandel mit Gewalt oder erzwingt durch Allianzen mit Diktaturen das Fortbestehen der bisherigen Praktiken. „Die Anwesenheit von Körpern an unerwarteter Stelle kann ein Argument sein“Sind die gewaltsamen Proteste der Letzten Generation legitime Notwehr gegenüber den Brandstiftern? Ich sehe darin fürs Erste bloß agierte rhetorische Figuren. Man muss Sitzblockaden nicht gleich im Bereich der Gewalt lokalisieren, auch wenn ein Aspekt von Nötigung ins Spiel kommt. Manche deutsche Richter machen es sich in dieser Hinsicht zu leicht. Man hat es bei solchen Protesten mit einer Erweiterung des Quintilianischen Regelwerks zu tun: Seit jeher enthält die Kunst der Rede ein pantomimisches Element. Was die Leute von der Letzten Generation tun, ist zwar extrem naiv, gelegentlich lächerlich und für Betroffene ärgerlich, aber es kann noch im Bereich der künstlerischen und zivilen Ausdrucksfreiheit eingeordnet werden. Also quasi Körperkunst?Die Aktivisten sind letztlich Redner in einem pantomimischen und aktionistischen Register. Ihr Gebrauch von störender körperlicher Präsenz sollte man nicht mit dem Gewaltbegriff vermischen. Auch eine Sitzblockade ist ein rhetorisches Gebilde, die Anwesenheit von Körpern an unerwarteter Stelle kann ein Argument sein. Das wissen wir seit der Antike: Körperliche Gesten sind Teile unserer diskursiven Kultur. Allerdings, würden sie wirklich eine Pipeline in die Luft jagen, hätten wir es mit einem völlig anderen Tatbestand zu tun. Doch was die angebliche Notwehr betrifft: Der Begriff ist völlig fehl am Platz, da er eine präsente Gefahr für Leib und Leben impliziert. Die Aktivisten deuten aber auf etwas relativ weit Entferntes hin. Es könnte freilich im späteren Lauf ihres Lebens aktuell werden, oder in dem ihrer Kinder, falls sie noch solche haben wollen. Hochkulturelle ökologische Intelligenz finden Sie zum Beispiel in den Waldpflegegesetzen des alten Chinas. Liegt Fortschritt in der Rückbesinnung? Soll man die Rückkehr zu alten Mustern predigen, etwa zum benediktinischen Modus von Bodenbewirtschaftung, wie er zu Beginn der grünen Bewegung in Deutschland in den 70er Jahren ins Gespräch kam? Ich glaube nicht daran. Wenn die Konstitutionen von Melfi, 1231 durch den Friedrich II. erlassen, die Gewässerbelastungen durch Gerber und Abdecker mit Strafgeldern belegten, so einfach deshalb, weil die sich wie die Schweine aufführten, sie warfen die Abfälle ihrer Bearbeitung von Fellen ins Wasser, auch tote Tiere, mit scheußlichen Nebeneffekten. Erste Verbote mit Strafandrohungen deuteten schon damals in die gute Richtung. Sehr lange jedoch herrschte allenthalben bei der Entsorgung prekärer Materialien das Gewohnheitsrecht. Unsere Vorfahren wussten nichts von Mikroben, man kannte hingegen das Konzept der Miasmen, es enthielt die gut begründete Ahnung, dass übel riechender Dunst ein Anzeichen von Schädlichem ist.Also hatte man in der Vormoderne vielleicht doch einen intakteren Sinn für die Natur und ihre Gefahren? Der romantische Naturbegriff war zweifellos etwas idyllisch, aber in einer adäquaten intellektuellen Rekonstruktion lässt sich aus ihm die Idee des Ökotops ableiten. In dem Maß, wie vernetztes Denken auf Naturphänomene angewandt wird, werden die gröbsten Formen der extraktiven Naturbehandlung aufhören. Vor etwa zwanzig Jahren habe ich gelegentlich vorgeschlagen, zwischen Homöotechnik und Allotechnik zu unterscheiden. Die letztere entspricht dem extraktiven Modus, ihre Paradigmen sind Hammer, Bagger und Explosionsmotoren. Homöotechnik dagegen denkt biotopische Zusammenhänge mit und lässt die Koproduktion von Naturwirkungen zu, quasi in einer erweiterten Gärtnerei. „Politische Großgebilde sollten abgeschafft werden“Wie kann die Überwindung des „extraktiven Nihilismus“ aussehen? Ich sehe den Unterschied zwischen moralischem und technischem Nihilismus nicht so deutlich, wie er gelegentlich dargestellt wird. Technischer Nihilismus wird ja sehr häufig von einem moralischen Nihilismus getragen: Alles für den Menschen, auch wenn der Mensch selbst zur Ressource und dadurch letztlich nichtig wird. Wir stehen, wie man allenthalben sieht, in der Anfangsphase eines Kulturwandels, der vom Umfang her dem entsprechen könnte, was aus den modernen Nationen wurde, seit die Buchdruckerkunst ihren Einzug hielt. Man erkannt die Welt von früher seither nicht wieder. Auch die modernen Nationen sind ja als Nebeneffekte des Buchdrucks zu verstehen, quasi als Alphabetiserungskollektive. Auf der Linie dieser von Marshall MacLuhan vorgebrachten These sollte man angesichts der aktuellen digitalen Zäsur weiterdenken. I Ich selber favorisiere Visionen von künftigen Zuständen, in denen die politischen Monster, die heute als die Hauptakteure am Werk sind, von den Landkarten verschwunden sein werden. Es wird nach einer Weile noch Chinesisches in der Welt geben, aber kein China mehr. Es wird noch Russisches in der Welt geben, Russland jedoch, wie man es kannte, wird verschwunden sein – niemand, außer ein paar reaktionären Ideologen, wird es bedauern. Politische Großgebilde dieser Art gehen auf die Paranoia längst abgeschaffter Monarchien zurück, und sie sollten selbst auch abgeschafft werden, allein schon aufgrund der ökologischen und organisationspraktischen Unhaltbarkeit der überalterten imperialen Konstrukte. Was bedeutet das für die Buchkultur? Wir haben es ja schon vor Augen: Sie geht in die Welt der Bilderschriften und der digitalen Zeichenerzeugung über. Hubert Burda hat nicht zufällig schon vor Jahrzehnten von einem iconic turn gesprochen. Im Übrigen beruht dieser Umschwung auf Technologien, in denen die alten nationalstaatlichen Grenzziehungen keinen Sinn mehr ergeben. Abgesehen von den zentralisierten Steuer- und Rentensystemen lässt sich kaum ein zwingender Grund mehr für das Bestehen von großen Nationen ins Feld führen. Auch in den nationalen Kulturen als solchen ist kaum noch etwas zu erkennen, was um jeden Preis bis ans Ende der Welt erhalten werden müsste. Drohen mit dem grünen Pazifismus eher Degrowth und Deindustrialisierung oder ein grüner Stalinismus? Darf man auf eine kulturelle und politische Renaissance hoffen? Das Wort Renaissance ist hell besetzt. Das soll man beibehalten, auch wenn man weiß, dass Renaissance zunächst etwas ganz anderes bedeutete, als Kunsthistoriker meinen. Als Cola di Rienzo um das Jahr 1347 in der Taufwanne Konstantins des Großen ein symbolisches Bad nahm und damit seine Wiedertaufe, besser seine Wiedergeburt inszenierte, vollzog sich die Urszene der folgenden Epoche. Renaissance war zunächst ein christlicher, genauer ein wiedertäuferischer Vorgang. Doch ist der Mensch ohnedies auf Wiedergeburt angelegt – denn wer kann schon von sich sagen, er sei ganz geboren? Mein vor wenigen Monaten verstorbener Freund Peter Weibel hatte in Karlsruhe eine Ausstellung Renaissance 3.0, vorbereitet, in der gezeigt wird, wie an den Berührungsstellen von Wissenschaft und Kunst heute von Neuem erneute lebhafte Kreativitätszonen entstehen, vergleichbar den Konstellationen des 14. und 15. Jahrhunderts. Für das Leonardo-Phänomen, für die polytechnische und multiartistische Intelligenz ist offenkundig wieder ein goldenes Zeitalter angebrochen. Kurzum, Renaissance ist ein Begriff, mit dem wir weiterhin etwas anfangen können. Er deutet auf starke kulturreformerische Energien. Wenn wir uns überlegen, wie unähnlich die Welt seit 1800 sich selbst geworden ist, können wir verstehen, wieso wir Mühe haben, uns die so unvermeidlichen wie unvorhersehbaren, Wandlungen in den nächsten 200 Jahren vorzustellen, sie werden in jedem Fall gewaltig sein. Sicher ist nur, die Beharrungskräfte sind nicht stark genug, um die Wanderdünen des Wandels aufzuhalten. Europa spielt Flohzirkus, und der Papst hofft auf eine leere HölleIn welche Richtung bewegen sich diese Dünen? In Richtung Ökostalinismus, Ökoleninismus? Möglicherweise in Richtung eines grünen Leninismus, wie er in den Schriften von Andreas Malm ausformuliert vorliegt. Er hat zwar nur eine geringe Anhängerschaft. Ein Teil der Kleber schielt tatsächlich in Malms Richtung, die Mehrheit aber orientiert sich aber noch an Hans Jonas mit seinem „Prinzip Verantwortung“. Wie kann man die Ekpyrosis, die Wiederauflösung der Welt im Feuer, verhindern, wo doch auf globaler Ebene nicht energisch genug gehandelt wird? Die Situation ist deshalb so prekär, weil man zur Lösung der globalen Probleme viel mehr Handlungsfähigkeit bräuchte. Effektive agency ist das, was am meisten fehlt.Es gibt viele Agenturen, doch deren Effekte heben sich gegenseitig auf. Wenn Herr Habeck Wärmepumpen anordnet, verkauft Herr Putin sein Öl nach Indonesien oder China und die Gesamtlage wird mulmiger als zuvor. Während wir uns mit neuen Abstinenzregeln quälen, lassen andere umso mehr die Zügel schießen. Die europäischen Anstrengungen sehen auf der Weltbühne wie Flohzirkus aus. In einem solchen Zirkus glaubt jedes Tierchen, dass es das Zwanzigfache seines eigenen Körpergewichtes ziehen kann. Aber selbst wenn die deutschen Flöhe es lernen könnten, das Millionenfache ihres Körpergewichtes zu ziehen, haben wir es nach wie vor mit der Tatsache zu tun, dass die chinesische Regierung uns ins Gesicht spuckt, die Inder ebenso und die Amerikaner kaum weniger. In der Offenbarung (21:8) heißt es: „Den Feigen aber und Ungläubigen, Befleckten, Mördern, Unzüchtigen, Giftmischern, Götzendienern und allen Lügnern soll ihr Teil werden in dem See, der von Feuer und Schwefel brennt, das da ist der zweite Tod.“ Die Guten in die Feuerwehr, die Schlechten in den Feuerpfuhl? Kann denn die Menschheit als Ganze gerettet werden? (lacht) Ich halte es mit dem seligen Papst Johannes Paul II., der in einer nicht amtlichen Äußerung gesagt haben soll: „Hoffen wir, dass die Hölle leer sei“. Speriamo che l'inferno sia vuoto. Eine theologisch recht raffinierte Äußerung. Der fromme Papst muss an der Existenz der Hölle festhalten, da ansonsten das katholische Weltgebäude nicht mehr gerade stünde, aber die Vorstellung von einer leeren Hölle bringt ein subtiles neues Element ins Spiel. Zieht man die Konsequenzen, würde es bedeuten, dass Origines posthum doch ein Kirchenvater geworden wäre. Seine Lehre von der Wiederherstellung aller Dinge humanisiert Gott noch weit über das Evangelium hinaus … Sie rettet ihn auch vor dem Verdacht, ein schlechter Geschäftsmann gewesen zu sein. Denn eine Schöpfung auf die Beine zustellen und dann so viele Geschöpfe unterwegs der Sünde wegen zu verlieren, das macht doch einen metaphysisch fragwürdigen Eindruck. Zum Schluss noch eine überflüssige Frage …Solche Fragen mag ich besonders …… welche Hymne, welchen Song würden Sie den Kindern Gaias widmen? Ah, das ist eine schöne Idee! Es müsste etwas in der Art einer unendlichen Melodie sein, wie der bekannte Kanon von Pachelbel oder die durchlaufende Melodie aus der Bach-Kantate „Jesu, meine Freude“ – Kennen Sie die? (summt die Melodie). Das könnte man weiterführen, bis zur positiven Trance. Mithilfe von Drei-Minuten-Schlagern wird man die neuen Kinder der Erde nicht erreichen.